Roman unserer Kindheit
irgendeiner Absicht folgend, das nötige Stückchen auf den Kletterer zugerückt.
Ich kann ermessen, wie weit der neunmalkluge Kinderwagenhocker damit recht hat, und fühle dazu, wie ihm die Einsicht eiskalt den Rücken hinuntergruselt. Ich nutze den zitternden Augenblick und bibbere ein bisschen mit. Dann jedoch mag ich lieber oben in der Buche sein. Während der Ältere Bruder aus seiner Karre zu den Nägeln hinaufstarrt, gucke ich, weiterhin solidarisch, aber nicht mehr bis in jedes meiner weichen Wirbelchen voll Mitgefühl, aus der ersten Mulde zwischen Ast und Stamm zu ihm hinunter. Ohne dass er es ahnen könnte, sind wir uns einig. Wir beide fürchten uns vor dem, was kommen muss. Der Schniefer hat Blut geleckt. Der Wolfskopf und der Ami-Michi feuern ihn an, und die Schicke Sybille ist aufgestanden, um dicht an den Baum heranzutreten. Zum ersten Mal hat einer von ihnen die Möglichkeit, die große Mulde zu erreichen. Dort, wo der mächtige erste Ast abgeht, biegt sich die Buche in die andereRichtung, als müsse sie das Gewicht ihres wuchtigen Auslegers mit einer Gegenneigung austarieren. Dorthin, in die sesselbreite Kuhle zwischen Stamm und Hauptast zu gelangen hieße, es ganz geschafft zu haben. Wer von dort oben zu Zeugen hinuntergewunken hätte, würde für immer und ewig der erste Nagelbuchenbezwinger unter den Kindern der Neuen Siedlung sein.
Der Schniefer fühlt: Heute kann es gelingen. Auf Bauch und Bauchnabel vertrauend kriecht er, nur noch die größte Zehe des rechten Fußes auf dem fünften Nagel, über ein letztes Stück besonders glatter Rinde, dann greifen seine Hände nacheinander in die Mulde, umschließen deren feingenarbten Wulst, und schon zieht er sich unter den Jubelrufen des Wolfskopfs und des Ami-Michi vollends hinauf. Hinauf zu mir. Unten dreht Sybille beide Zeigefinger in ihr Kleid. Der feucht gewordene, schon wieder halbwegs trockene Stoff spannt sich auf ihren Hüften, zugleich spürt sie den Blick des Älteren Bruders, der über ihre Schulter streift und den siegreichen Freund erfasst. Jetzt erst wendet der Schniefer sich zu ihnen um, hebt stumm die Fäuste, und die vogelguten Augen unseres großen Bruders können erkennen, dass er sich auf dem letzten Stück die Nase an der Rinde sauber gerubbelt haben muss. Unserer kurzsichtigen Sybille ist das Nasenloch des Schniefers hierfür nicht nah genug. Aber auch so versteht sie: Der Schniefer hat sich, jetzt, wo er ein Held ist, auch äußerlich verwandelt, und diese leibliche Verklärung wird noch ein tolles Weilchen, zumindest solange er dort oben thront und triumphiert, erhalten bleiben.
Sybille hat nichts dagegen, sie klatscht sogar als Einzige ein paarmal in die Hände. Aber unter dem Gewebe ihres Guckens und Bewunderns zieht sich wie ein dünner, falscherFaden ein älterer Ärger hin. Viel nötiger als hier, auf dem weit ausladenden Ast der Nagelbuche, hätten sie gestern an der ziegelroten Mauer, die den Biergarten der alten Bärenkellerwirtschaft einschließt, einen Helden gebraucht. Wenn gestern einer von ihnen im entscheidenden Moment den nötigen Heldenmumm bewiesen hätte, wären sie, wie es ja als Parole ausgegeben war, auch in den Bärenkeller hineingelangt. Der Ältere Bruder hatte sich auf dem Weg vom grünen Sofa hinauf zur Mauer gar nicht schlecht geschlagen. Der Boden war zwar nur von bleichem, hartstängeligem, in der Hitze der letzten Wochen abgestorbenem Gras bedeckt, aber Mäuse hatten die Wiese mit oberirdischen Laufgräben und dicht unter der Wurzelnarbe liegenden Gängen in ein für Krückengänger tückisches Terrain verwandelt. Ihr Anführer stolperte mehrmals, stürzte auch einmal auf die Knie, hatte sich jedoch stets klaglos wieder hochgerappelt, bevor die Freunde ihm unter die Arme greifen konnten. Als sie an der Mauer angelangt waren, schien er zu wissen, dass es rechtsherum weiterging, und stakste ihnen ziemlich flott voraus, obwohl ihm das durchgeschwitzte Hemd wie eine zweite Haut auf dem Rücken klebte und er längst keuchte wie ein abgehetztes Tier.
Jetzt, wo sie sich für uns erinnert, fällt der Schicken Sybille auf: Es sind die gleichen Blätter! Der schlanke Strauch, der unten am Rosenhang direkt aus der Mauer sprießt, trägt das gleiche Blattwerk wie dieser dicke, mit fünf uralten Nägeln gespickte Baum. Allein die Farben sind verschieden. Das kinderarmstarke Stämmchen, das sich dort unten aus einer Spalte zwängt, ist grün belaubt, während die Blätter der Nagelbuche zweierlei Rot,
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