Roman unserer Kindheit
abgenommen, weil das schwarze Rechteck mit dem weißen Schädel und den gekreuzten Oberschenkelknochen ängstliche Käufer verschrecken würde. Die schlimme, die tolle Flagge warte wahrscheinlich im Karton darauf, dass sie und ihr Boot beim Einpacken auf der Ladentheke wieder zusammenfänden. Und dann erzählten die Zwillinge der Mutter noch den Witz vondem Papagei, der das Branntweinfass des alten Kapitän Silber bewachen musste. Und weil sie ihnen zuhörte, weil sie in der Regel gar nicht anders kann, als ihren Kleinen zuzuhören, erfuhr sie, wie das superkluge Tier eines Nachts doch von dem noch klügeren Schiffsjungen überlistet worden war und eine ganze Kanne des hochedlen Getränks an die gemeine Mannschaft verloren ging.
Zur Operette hatten die Ehepaare selbstgemachten Mokka-Likör getrunken. Bereits vor der Ouvertüre wurden die kleinen Schnapsgläser, die sich Sybilles Schwester immer auslieh, wenn sie mit dem Fröhlich-Mädchen Puppengeburtstag spielte, zum ersten Mal von Frau Böhm damit gefüllt. Obwohl der Mutter der Likör, den der kleine Gas-Böhm aus irgendeinem besonderen Kaffee, aus Sahne, Eigelb und Weinbrand mixte, durchaus schmeckte, nippte sie nur an ihrem Gläschen. Die Männer hingegen kippten die dunkle, im Schein der Fernsehröhre ölig schillernde Flüssigkeit, wie sie es von Schnäpsen gewohnt waren, auf einen Zug hinunter. Der Mutter war bald aufgefallen, dass ihre Nachbarin nicht nur den Herren der Schöpfung eifrig nachschenkte, sondern auch selbst im Handumdrehen mehr als zwei, drei Damenanstandsschlückchen intus hatte.
Auf halber Operettenstrecke, gerade als die verwirrenden Verwicklungen zwischen den adeligen und bäuerlichen Paaren, zwischen den täuschenden oder getäuschten Heiratskandidaten geigensüß und walzertaumelnd einem ersten Höhepunkt entgegenstrebten, tapste Sybilles kleine Schwester im Nachthemd aus dem Kinderzimmer, weil sie angeblich noch einmal pinkeln musste, und prompt blieb sie beim Rückweg vom Klo auf dem Schoß ihres Vaters hängen. Natürlich guckte wenig später auch Sybille mit trotziger Miene in diemilchig erhellte Küche. Die Mutter fand es ungerecht, dass die Größere vom Genuss des nagelneuen Fernsehers ausgeschlossen bleiben sollte, und winkte Sybille, so eigenmächtig, wie es manchmal ihre Art ist, zu sich her, um sie neben sich auf die Eckbank zu ziehen. Nach innen rutschend, den Arm schon um Sybilles bettwarme Hüfte, geriet der Mutter der Blick, weil sie niemandem gegen die Füße stoßen wollte, unter den Tisch. Auch dort unten wogte das Fernsehlicht, auch unterm Tisch lachte und kicherte die Operette: Annabett Böhms Linke lag auf dem rechten Oberschenkel ihres Nachbarn, die nicht allzu langen, aber mokkadunkel lackierten Fingernägel hatten eben ihre Ausgangslage knapp über dem Männerknie verlassen und machten sich, den dünnen Stoff der Sommerhose, den die Mutter erst heute Vormittag sorgfältig glatt gebügelt hatte, zu kleinen Falten schiebend, auf den Weg nach oben.
Die Mutter ist nicht kleinlich und will es auch in diesem Fall nicht sein. Während draußen das Regenwasser die Gullys des Rundwegs zum Gurgeln bringt, sagt sie sich, dass eigentlich unter dem Küchentisch der Böhms so gut wie nichts passiert sei. Inzwischen, während dieser fatale Operettensommer in unserem August verklingt, hat sie sich über vielen Gläsern heißen, lauen und vollends kalt gewordenen Kaffees immer aufs Neue vorgebetet, dass sie, die beiden Ehepaare, das Fernsehen in derart schummrigen Räumen, noch dazu das Bildschirmgucken mit Musik, einfach nicht gewohnt gewesen seien. Dazu kam diese Mokka-Tunke, in die der Gas-Böhm stets eine Unmenge Eidotter quirlt, weil er – wie viele kleingewachsene Männer! – auf allen möglichen Gebieten zum Großtun und zum Übertreiben neigt.
Immer wenn sie sich selber so weit hat, dass ihr die Nachbarinin kühler Rückschau, in vernunftgeleiteter Nacharbeit halbwegs entschuldigt scheint, kommt ihr das Leuchtboot in die Quere. So war es schon am Fernsehabend. Den strammen Körper Sybilles, die das Gedrücktwerden wohl leiden mochte, an sich ziehend, versuchte die Mutter, sich auf den Fortgang der Operettenhandlung zu konzentrieren. Aber das wollte und wollte nicht gelingen. Der neue Fernseher, dessen Strahlkraft und Schärfe der Vater zwei Stunden später überschwänglich loben sollte, während er sich likörtrunken bemühte, im Stehen aus seinen Hosen zu steigen, schlug ihren Blick nicht mehr in seinen Bann.
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