Roman unserer Kindheit
Immerzu musste die Mutter zu den Segeln des schwarzen Schiffs hinüberschauen. Sie waren starr und dünn und mit Schriftzeichen verziert, die sie von der Eckbank aus nicht entziffern konnte. Sybille noch fester an sich pressend, musste die Mutter an den Papagei des Kapitäns, an den Papagei aus dem Piratenwitz ihrer Söhne denken, und daran, wie das wachsame und staunenswert sprachbegabte Tier mit einem wirklich groben, einem eigentlich unerzählbar derben, einem ordinären, ja obszönen Trick übertölpelt worden war. Sie sah den Vogel auf dem gekrümmten Nacken seines Herrn, über dessen silberweißen Zopf hinweg, von einer Schulter auf die andere turnen. Sie sah die hölzernen Prothesen, die dem Piratenkapitän Unterschenkel und Füße ersetzen mussten. Kommandant Silber hatte er im Witz geheißen. Und plötzlich überkam sie von irgendwo – aus der Erinnerung oder aus dem Fernsehschimmer – der unsinnige und dennoch unabweisbare Gedanke, echte Piraten, auf immer neuen Raubzügen restlos schlimm gewordene Männer, hätten die Segel, die den Segelchen der Fernsehleuchte zum Vorbild dienten, aus Schrecklichem zurechtgeschneidert. Tabakbefleckte, fürKälte, Hitze und Schmerzen längst unempfänglich, aber dafür teuflisch fix gewordene Finger hätten selbst diese Segel, auch die leuchtenden, die windlos prall gewölbten Rechtecke im Böhm’schen Regal, aus den abgezogenen Häuten, aus der Rücken-, Bauch- und Schenkelhaut nicht ausgelöster Geiseln hergestellt.
Der Regen hatte die größeren Kinder genau auf halbem Weg hinunter zum Rosenhang, auf Höhe des weißen Blocks, überrascht. Weil es wirklich mörderisch schüttete, entschied Sybille, dass sie sich erst einmal unterstellen sollten. Der Wolfskopf steuerte die Karre des Älteren Bruders unter die Nagelbuche, vor deren Stamm der Drosselgrund in einem sackartigen Halbkreis endet und deren Krone ihren dicksten Ast weit über den Fußweg schiebt. Die Nagelbuche ist ein wirklich alter Baum, viel älter als die Bäume und das Strauchwerk des angrenzenden Spielplatzgeländes, viel älter als die Neue Siedlung. Sie ist, nicht einmal unser großer Bruder kann das wissen, so alt wie die Gittertür, die unter der Bärenkellerwirtschaft das Vordringen in das verbotene, weil angeblich einsturzgefährdete Labyrinth der weiteren Gänge verhindern soll. Als die Zwillinge die Mutter einmal fragten, wie alt die Nagelbuche wohl genau sei, und sich mit der Antwort, sie habe keine Ahnung, nicht zufriedengaben, sondern zumindest eine ungefähre Zahl zu hören verlangten, meinte die Mutter lachend, die Buche sei auf jeden Fall nicht jünger als die urigen, von Hand geschmiedeten Nägel, die in ihr steckten. Ein Baum müsse nämlich schon recht groß sein, damit einer auf den Gedanken käme, solch riesige Nägel in sein Holz zu hauen.
In meinem Sommer ist der Stamm so dick, dass sich dieJungen, dass sich der Schniefer, der Wolfskopf und der Ami-Michi, nun nebeneinander gegen seine glatte graue Haut lehnen können. Allein Sybille setzt sich lieber auf die Kante des Zwillingskinderwagens, weil sie ihr helles, klein geblümtes Kleid trägt und es nicht schmutzig machen will. Wie immer beginnen der Wolfskopf und der Schniefer damit, die Nägel zu untersuchen. Zuerst wird abgezählt, ob es weiterhin fünf sind. Dazu müssen sie ein Stück um den Baum herum. Denn bloß die vier ersten sitzen wie Knöpfe übereinander, der fünfte Nagel findet sich fast um ein Viertel des Baumumfangs nach hinten versetzt. Dafür steckt er deutlich niedriger über dem vierten, als es der Abstand, den die anderen voneinander halten, erwarten lässt. Alle fünf Nägel sind schief, alle neigen den Nagelkopf zur Erde, als wären sie trotz ihrer Schmiedehärte von vielen Füßen allmählich in dieses Geknicktsein gezwungen worden. Die Kinder zweifeln nicht daran, dass man die Nägel von Anbeginn zum Hochklettern benutzte, denn nur so erklärt sich, warum sie oben flach gewetzt sind. Rätselhaft ist aber, warum der Aufstieg nach dem fünften Nagel endet. Und völlig im Dunkeln liegt, aus welchem Grund die fernen, früheren Menschen, die sich die Freunde nur als Erwachsene denken können, hinauf in die Baumkrone gelangen wollten, zu welchem Zweck sie einst die Nägel ins blutende Weiß des Holzes getrieben haben könnten.
Der Wolfskopf meint jetzt nicht zum ersten Mal, in den damaligen Zeiten seien bestimmt besondere Früchte auf dem Baum gewachsen, riesige Bucheckern, so süß und weich wie Birnen, die
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