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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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ein tiefmattes und auf der Gegenseite ein zart glänzendes, zu bieten haben. Sybille ist sich nicht sicher, obdiese Blätter vor der Mauer noch ein wenig schauriger gewesen wären. Wahrscheinlich schon, denn mit den Rottönen ihrer Ober- und Unterseiten und dem Ziegelrot der Mauer hätten sie gestern insgesamt viererlei Rot gesehen. Das vierte und wichtigste Rot, das Rot der aufgespießten Lacksandalen, sah auf der stumpfen Oberfläche der Ziegel frisch und feucht aus, als könnte sich der in der Schuhfabrik erstarrte Glanz jeden Augenblick erneut verflüssigen und ins Abtropfen geraten. Die Schuhe ihrer kleinen Schwester hingen übereinander, die Fersen zeigten nach unten. Von Händen, die mit Werkzeug umzugehen verstanden, war ein ungewöhnlich langer und starker Nagel durch beide Sandalenspitzen, mitten durch die Kappen, die die Zehen schützen, und durch beide Sohlen, in eine Mörtelfuge des Mauerwerks getrieben worden. Und dann hatte der Nagler – wer weiß, warum? – noch die weißen Söckchen von Sybilles Schwester um den Nagelkopf geknotet.

Sonnentag
    Der Ältere Bruder hat sich so auf das Zurückkommen gefreut. Gleich beim Aussteigen aus dem Taxi wollte er den Freunden zeigen, was er dem gewaltigen Professor Felsenbrecher in einem kühnen Vorstoß abverlangt und dann zu seinem Erstaunen sogleich bewilligt bekommen hatte. Aber kaum, dass das Taxi in die Runde einfährt, noch während es am gelben Block entlangrollt, begreift er: Etwas Besonderes muss geschehen sein, etwas, was seine großartige Neuigkeit erst einmal nichtig macht. Der Hof ist wie leer gefegt. Im Sandkasten sitzen bloß die drei Allerkleinsten auf ihren dicken, windelgepolsterten Hosenböden. Die umgekippten Eimerchen, die in den Sand gestochenen oder einfach hingeschmissenen Schippen verraten jedoch, wie viele Knirpse hier eben noch am Buddeln gewesen sind. Vor dem Hauseingang steht Frau Böhm, hinabgeneigt zu ihrer jüngeren Tochter, und als das Taxi ausrollt, sieht unser großer Bruder, wie heftig, wie ungewöhnlich grob die Nachbarin Sybilles kleine Schwester an den Schultern rüttelt.
    «Das ist ein Wort, mein Söhnchen!», hatte Professor Felsenbrecher gedröhnt und dem Älteren Bruder dazu so deftig auf den Rücken gehauen, dass die Mutter und Schwester Innocentia in synchronem Erschrecken mit den Lidern zuckten. Er schätze es, er liebe es geradezu, wenn einer seiner Patienten auch einmal mit einem Vorschlag aus der Hüfte komme. Leider seien die meisten, die Kinder wie die Erwachsenen,von ihrem jeweiligen Missgeschick nicht nur in der leiblichen Beweglichkeit eingeschränkt, sondern auch in ihrem Wollen behindert. Manche, die sie hier liegen hätten, gestandene Männer mit nichts weiter als einem längsgeschlitzten Bändchen am Knöchel oder einem Knorpelriss im Knie, verfielen in eine derart elende Apathie, dass ihnen die Pflegekräfte zuletzt sogar noch sagen müssten, wann es Zeit zum Pinkeln sei. Schwester Innocentia solle mit seiner Mutter nachschauen gehen, was man in seiner Größe vorrätig habe. Er wolle die Abwesenheit der holden Weiblichkeit dazu benutzen, um ihm, so flott es gehe, den Witz vom boxenden Papagei zu erzählen, der passe nämlich nun wie die berühmte Faust aufs Auge.
    Als die beiden Frauen dann mit zwei Paar Krücken zurück ins Behandlungszimmer kamen, hatte der kampflustige Papagei seinen Gegner, einen hühnermordenden Habicht, wie verlangt, mausetot geboxt. Gelernt ist halt gelernt. Und Papageien können eine Menge lernen, so man ihnen frühzeitig die Gelegenheit dazu verschafft. Jetzt jedoch schwankt der kluge und geschickte Vogel, taumelnd dreht er Kreise über dem Hühnerhof, kippt schließlich neben dem gefällten Gegner auf den Boden. Erschrocken eilt sein menschlicher Herr und Lehrer hinzu. In einem eindrucksvollen Jammerton lässt Professor Felsenbrecher den Vogelhalter bereuen, dass er seinem lieben Tier den Kampf mit dem fast adlergroßen Raubvogel, diesem König der Lüfte, zugemutet hat. Aber da tut der Papagei tiefheiser flüsternd kund, ihm fehle nicht das Geringste, er simuliere bloß ein bisschen, um auch noch jene beiden Geier herabzulocken, die hoch über der Stätte seines Sieges zu kreisen begonnen hätten. Der Witz brach hiermit ab. Aber der Ältere Bruder sah die nackthälsigen Leichenfresser,auch unerzählt, mit sanftem Flattern unweit ihres Zieles landen. Ehrfurchtsvoll indirekt, in weitem Bogen und mit pietätvoll abgemessenen Schritten, tapsten sie auf den Bewegungslosen zu. Und

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