Roman unserer Kindheit
man pflücken musste, bevor sie auf den Boden plumpsten und zermatschten. Der Ami-Michi, der eher denkt, dass die Welt früher nicht süßer, sondern schlimmergewesen sein muss, hält ihm wie immer entgegen, die Buche sei todsicher ein Zufluchtsbaum gewesen. Die Menschen hätten sich vor den vielen wilden Tieren, die dereinst einfach frei herumgelaufen seien, vor allem vor den großen Urzeitwölfen über die Nägel in Sicherheit gebracht. Der Ältere Bruder soll entscheiden! Der Ami-Michi bittet unseren großen Bruder, nun endlich zu erzählen, was wirklich gewesen sei. Da es nicht aufhöre zu regnen, solle er die Wahrheit in eine schöne Geschichte stopfen und ihnen ohne weiteren Aufschub von riesengroßen, zuckersüßen Urbucheckern oder von heißhungrigen Wolfsrudeln berichten.
Der Ältere Bruder rutscht erst einmal in seiner Karre hin und her, drückt sich eines der beiden Kissen anders in den Rücken, dann schüttelt er unwillig den Kopf und murmelt, sie hätten zwar in gewisser Weise beide recht, allerdings sei dies ziemlich egal, weil die wahre Geschichte der Nagelbuche, ihr Geheimnis, so man sich davon zu erzählen traue, viel grässlicher als alle Raubtiermäuler und zugleich süßer als die süßesten Früchte sei. Die Schicke Sybille mag es sehr, wenn unser großer Bruder sie und die anderen mit solchen Sprüchen auf die Folter spannt. Anders als den Buben, die nun enttäuschte Schnuten schneiden, macht es ihr überhaupt nichts aus, dass er nicht gleich mit der verheißenen Geschichte herausrückt. Sybille weiß: Schon bald, in diesem Sommer noch, wird es geschehen. Und sicherlich wird es schöner im Nacken und in der Mulde zwischen den Schulterblättern prickeln, vom Geheimnis des Baums zu hören, wenn seine Krone nicht bloß wirklich wie jetzt, da oben über ihren Scheiteln, sondern ganz und gar vorgestellt in Wind und Regen rauscht.
Der Schniefer aber steigt aus den Sandalen. Er hat beschlossen,ihr Warten für einen Kletterversuch zu nutzen. Ihm ist es bislang als Einzigem gelungen, den Fuß auf den vierten Nagel zu bekommen, was auf den ersten Blick unmöglich scheint, weil man sich dazu eigentlich schon am fünften Nagel festhalten müsste, der aber erst erreichbar wäre, wenn man auf dem vierten stünde. Dem Schniefer gelingt es dennoch. Mit seiner Bauchmethode! Das heißt, er schlüpft aus Hemd und Unterhemd und presst sich dann so fest gegen die Rinde, dass nach Auf- und Abstieg ein Muster aus roten Linien, Kratzern und fleckig abgeschürfter Haut belegt, wie innig er dem Baum verbunden gewesen ist. Wenn es riskant wird, wenn er eigentlich nach unten plumpsen müsste, weil er ohne Halt für die Hände in eine leichte Rückenlage kommt, vermag er sich als einziger der Freunde, vielleicht sogar als einziger Kletterer der ganzen Welt, kurz mit dem Nabel anzusaugen, weil dieser eine besondere Form besitzt. Die anderen haben ihn schon mehr als einmal gründlich angesehen und betastet. Während sich die Mittelpunkte ihrer Bäuche bei allerlei kleinen Verschiedenheiten doch in der Grundform ähneln, verfügt der Schniefer über eine in einen rundum gleichmäßigen Wulst gefasste, murmelgroße Kugel, die er mit Willenskraft bestürzend tief nach innen ziehen oder komisch weit nach außen stülpen kann.
Schon hängt er mit bloßem Oberkörper an der grauen Rinde, schon hat er die nackte Sohle des linken Fußes auf dem vierten Nagel, und als er sich ein Stückchen weiterschlängelt, wird es ihm möglich, sich mit dem linken Bein nach oben zu drücken, und seine rechte Hand erreicht den fünften. Zuerst nur mit der Kuppe des Mittelfingers, wie es ihm schon bei seinen letzten Versuchen gelungen ist, dann mit drei Fingern, schließlich mit der ganzen Hand. Alle haltendie Luft an. Sybille denkt, der Schniefer sei seit seinem letzten Aufstieg ein tolles Stück gewachsen. Der Wolfskopf und der Ami-Michi hingegen glauben, dass sich ihr Freund erstmals perfekt geschmeidig, wie mit Gummigliedern, nach rechts hinüberdehnt. Beide können dieses neuartige Strecken wohlig schmerzhaft in den eigenen Gelenken spüren und sind stolzer denn je über die Kletterkünste ihres Freundes. Nur unserem großen Bruder ist nicht wohl dabei. Während der Regen in das Blattwerk der Nagelbuche prasselt, ist er sich plötzlich sicher, dass etwas anderes den heutigen Erfolg begünstigt hat. Das alte Schmiedeeisen hat die bisherige Grenze aufgehoben. Der bislang allerhöchstens angetupfte fünfte Nagel ist, einer günstigen Furche und
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