Roman
Kopfbewegung an, ihr nach oben zu folgen. „Soll ich dir zeigen, wovon ich den ganzen Tag geträumt habe?“
10
Im Morgengrauen brach Kristina auf. Auf der vierstündigen Autofahrt nach Frankfurt, wo der Kurs stattfinden würde, rief Tom sie mehrmals an.
„Ich vermiss dich jetzt schon“, sagte er.
Kristina lachte. „Lügner.“
„Du nimmst mich nicht ernst.“
„Nein.“
„Nur weil ich jung bin.“
„Nein, weil ich so alt bin.“ Daraufhin erzählte sie Tom von Peters geistigen Ergüssen.
„Hör nicht auf ihn. Lass dich auf dieses Abenteuer ein. Lass dich einfach fallen“, meinte Tom. „Ich bin da und fang dich auf.“
„Versprochen?“
„Hoch und heilig.“
„Durchs Telefon kann ich natürlich nicht erkennen, ob du heimlich die Finger hinter dem Rücken kreuzt“, zog Kristina ihn auf.
Tom lachte leise. „Fahr vorsichtig. Ciao bella. “
In Frankfurt erwartete sie ein straffes Programm. Auf dem Stundenplan standen Muskelfunktionsdiagnostik, medizinische Trainingstherapien, Lymphdrainage, Aromatherapie, Fußreflexzonenbehandlung und alles, was sonst noch so up to date war. Vieles von dem, was sie an Neuem lernte, würde sie in ihrer Praxis vermutlich gar nicht anwenden. Aber sie genoss es, etwas anderes auszuprobieren, über den Tellerrand zu schauen und so den eigenen Horizont zu erweitern.
Um die Theorie praktisch umzusetzen, sollten die Kursteilnehmer ihr neues Wissen gleich aneinander anwenden. Kristina wurde einer älteren Kollegin namens Sandra zur Seite gestellt, die sich außerdem als Emanze, Freigeist und Extremsportlerin entpuppte.
„Kristina, du bist steif wie ein Brett. Mach dich mal locker! Mann, bist du verspannt im Nacken“, stellte Sandra fest, als sie Kristinas Schulterpartie bearbeitete. „Wovor ziehst du denn ständig den Kopf ein? So ein Nacken verrät eine dauernde Verteidigungshaltung: Schultern hoch, Kopf rein – wie ’ne Schildkröte. Und deshalb ist dein Nacken auch hart wie ein Panzer.“
„Quatsch.“ So lautete Kristinas einziger Kommentar zu Sandras Küchenpsychologie.
„Das ist kein Quatsch“, widersprach Sandra und knetete kräftig weiter. „Entspann dich, lass dich endlich fallen, lass mal los.“
Ist das jetzt die neueste Masche?, überlegte Kristina leicht genervt. Wollte ihr nun jeder vorschlagen, locker zu werden und sich fallen zu lassen?
„Wenn ich die Faxen mal dicke habe, springe ich von der Brücke“, erzählte Sandra.
Die hat ja nicht mehr alle Latten am Zaun! Eine Selbstmörderin gibt Lebenshilfe, dachte sie bei sich. „Jeder so, wie er’s mag“, gab sie knapp zurück.
„Ich mach nämlich regelmäßig Bungee-Jumping“, fuhr Sandra fort. „Solltest du auch mal ausprobieren. Das ist das Beste, was es gibt.“
„Ich soll an einem Seil von einer Brücke springen? Da kann ich mich ja gleich auf einen unbeschrankten Bahnübergang stellen“, meinte Kristina. „Das ist doch ballaballa.“
„Du hast nicht den blassesten Schimmer.“
„Da würde ich mich lieber freiwillig einer Wurzelbehandlung unterziehen.“
„Pfff“, entgegnete Sandra. „Wenn dir eine Wurzelbehandlung diesen gewaltigen Adrenalinkick verschafft, warum nicht.“
„Ich habe genug Aufregung in meinem Leben, da brauche ich nicht noch eine künstliche Dosis Stress“, konterte Kristina.
„Paul, meine bessere Hälfte, steht ja mehr aufs Fallschirmspringen. Der findet das irgendwie seriöser, so mit Flugzeug und Schirm. Ich dagegen halte nichts von Materialschlachten. Eine Brücke und ein Seil, und ab geht’s. Das ist das ultimative Urknall-Feeling.“
„Wie gesagt: Jeder so, wie er’s mag.“ Allmählich zweifelte sie ernsthaft an Sandras geistiger Gesundheit. Wahrscheinlich war sie auch diesem Jugendwahn verfallen wie Rita.
„Das ist so elementar, so supergalaktisch, so existenziell. Und das erlebst du nun mal nur, wenn der Tod dir zuzwinkert. Wenn du dann wieder festen Boden unter den Füßen spürst, fühlst du dich wie King Kong. Danach kann dir keiner mehr was“, schwärmte Sandra und fügte mit verschwörerischem Unterton hinzu: „Und die Endorphin-Ausschüttung hält tagelang an. Da bist du wie im Glücksrausch. Das ist wie ein multipler Dauerorgasmus, wenn du weißt, wovon ich spreche.“
„Hmm.“ Kristina war skeptisch. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie im freien Fall durch die Luft segelte. „Ich bin, was meinen Orgasmus betrifft, ziemlich altmodisch und bevorzuge mehr die klassische Methode. Und King Kong war sowieso nie
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