Roman
Liebe.“
Hätte Kristina nicht so viel Wein getrunken, hätte sie vermutlich nie zugesagt, was Sandra und Paul ihr zu vorgerückter Stunde nahelegten. Aber im Verlauf des Abends gelang es Paul und Sandra schließlich, sie dazu zu überreden, am nächsten Tag den Kurs ausfallen zu lassen und einen Fallschirmsprung zu wagen. Je mehr Kristina trank und je länger sie sich ausmalte, wie elementar, supergalaktisch und existenziell es sein würde, umso normaler und zugleich reizvoller erschien ihr der Gedanke, sich in die Tiefe zu stürzen.
„Aber wenn ich schon springe, dann aus einem Flugzeug und nicht von einer Brücke. Und ich will alles haben, was es an Netzen, Fangleinen und doppeltem Boden so gibt“, sagte Kristina weit nach Mitternacht. „Denn lebensmüde bin ich nicht!“
„Abgemacht“, nahm Sandra sie beim Wort. „Dann holen wir dich morgen um neun Uhr ab.“
„Logisch“, erwiderte Kristina beschwingt. „Aber wehe, ich fühle mich danach nicht wie King Kong, sondern bloß wie ein Zwerghamster. Dann setzt es was.“
„Der Godzilla-Effekt hat bereits eingesetzt, merkst du’s?“, meinte Sandra und küsste Kristina zum Abschied links und rechts auf die Wangen. „Schlaf gut. Und stell dir den Wecker!“
11
Kristina schwebte durch die Luft. Wie ein Adler zog sie am Himmel ihre Bahnen. Von ferne hörte sie eine sanfte Melodie. Sie versuchte, sich auf ihren Flug zu konzentrieren, doch die Melodie wurde immer lauter. Das störende Geräusch ließ sich nicht mehr ignorieren. Sosehr Kristina dagegen ankämpfte, so wenig gelang es ihr, die inzwischen zu einem lauten Tosen angeschwollene Musik zu überhören.
Mit einem Schlag war sie wach. Ihr Mobiltelefon spielte Over the Rainbow von Israel Kamakawiwo’ole. Eigentlich war das ihr Lieblingslied, aber gerade jetzt nervte sie der Song gewaltig. Sie schlug die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Wo war sie hier eigentlich? „O Gott“, stöhnte sie bei dem Versuch, den Kopf zu heben. Sie ließ sich zurück aufs Kissen sinken und spürte dem dröhnenden Schmerz an ihren Schläfen nach.
Kristina stellte den Handywecker aus und die Musik ab und überlegte. Nach und nach kamen die Erinnerungen zurück. Sie war mit Sandra und Paul ausgegangen, hatte mächtig gebechert und … Blitzartig setzte sie sich auf.
„Oh, mein Gott“, jammerte sie und fasste sich an die hämmernde Stirn. Hatte sie gestern nicht zugesagt, einen Fallschirmsprung zu machen? Nein, das hatte sie bestimmt nur geträumt. Das war ein völlig absurder Gedanke. In diesem Moment klingelte ihr Mobiltelefon.
„Morsche“, ertönte eine so laute Stimme aus dem Telefon, dass Kristina den Hörer auf Abstand halten musste. „Bist du bereit? Wir sind in 20 Minuten bei dir.“ Das war Sandra.
Kristina durchfuhr ein eiskalter Schauer. Sie hatte nicht geträumt – es war tatsächlich wahr! Übermut tut selten gut, schoss es ihr durch den Kopf, und sie ließ sich wieder aufs Kissen fallen.
„Hallo?“, fragte Sandra am Telefon. „Du wirst doch nicht kneifen, oder?“
„Äh … ich weiß nicht“, stammelte Kristina verstört, „ich glaube, ich bin krank. Mein Kopf …“
„Erzähl keine Märchen. Wir holen dich ab. Bis gleich“, unterbrach Sandra sie und legte auf.
„Sandra?“
Doch das Gespräch war schon unterbrochen. Kristina legte das Telefon auf den Nachttisch. In was für einen Schlamassel hatte sie sich da hineinmanövriert? Während sie unter der Dusche stand, suchte sie nach plausiblen Gründen für eine Absage. Sie zog in Erwägung, einen angeborenen Herzfehler, eine plötzliche Schwangerschaft, brüchige Knochen oder neurotische Störungen als Entschuldigung anzuführen. Aber dann erinnerte sie sich: Hatte sie gestern Abend nicht mit ihrer bombastischen Gesundheit geprotzt, als es darum gegangen war, ob sie mit einem jüngeren Mann überhaupt mithalten konnte?
Beim Zähneputzen kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht auf verminderte Zurechnungsfähigkeit aufgrund von alkoholischem Genuss plädieren könnte. Außerdem erfüllte sie wegen des hohen Restalkohols in ihrem Blut sicherlich nicht die Anforderungen bezüglich der Flugtauglichkeit. Ob Sandra das ohne Beweis gelten lassen würde? Wohl kaum.
Während sie sich anzog, entschied Kristina sich dafür, einfach die Wahrheit zu sagen. Sie hatte viel zu viel Schiss vor so einer Wahnsinnstat, und es war schließlich ihr gutes Recht, eine Entscheidung von dieser Tragweite noch einmal zu überdenken. Zufrieden mit
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