Roman
sich das Öl von den Händen wusch. Dann tupfte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht und studierte ihr Spiegelbild.
„Was ist bloß los mit dir?“, fragte sie die Frau, die ihr im Spiegel entgegenblickte.
Schon zum zweiten Mal in dieser Woche war sie während einer Behandlung in einen erotischen Tagtraum geglitten. Natürlich herrschte ein gewisser Notstand. Aber es war nicht so, dass sie sich nicht mehr im Griff hatte. Da stand sie nun also, eine Frau im besten Alter, mit einer immer noch passablen Figur, glatter Haut und keinem einzigen grauen Haar. Und was geschah?
„Nichts. Null Komma nix“, antwortete sie sich selbst. „Na ja, es gibt Wichtigeres.“
Viel wichtiger ist doch die Liebe, überlegte sie. Aber auch da sah es eher düster aus. Gab es denn nirgendwo einen Seelenverwandten für sie? Ja, das Leben konnte ziemlich gemein sein.
„Aber ich will mich nicht beschweren“, sagte sie wie immer zu sich, wenn sie Gedanken wie diesen nachhing, „ich habe ja alles, was ich brauche. Bloß nicht undankbar sein.“
Wie hatte Sophie diesen Zustand kürzlich genannt? Notgeil. „Oh, mein Gott“, seufzte sie. Ob ihre Tochter das auch bei ihr so nennen würde? Kristina fixierte ihr Spiegelbild. „Schau den Tatsachen ins Gesicht: Du bist jetzt eine notgeile Alte.“
In dem Moment klopfte es an der Tür. „Sprichst du wieder mit dir selbst?“
Kristina ignorierte die Frage und zog eine Grimasse. Dass sie zuletzt einen Mann im Arm gehalten hatte, lag schon Wochen, nein, Monate zurück. Eine Verschwendung hatte Rita es genannt. Und Kristina wusste, dass sie jetzt draußen vor der Tür stand. „Rita, du sollst nicht an der Tür lauschen!“, rief sie.
Rita. Das war die Frau, die ihr ständig vorhielt, dass sie das Beste im Leben einfach verpasste. Erst vor kurzem hatte sie zu Kristina gesagt: „Du bist eine Frau in den besten Jahren. Du stehst in der Blüte deines Lebens, und du lebst wie eine Nonne. Wann hast du deinen letzten Orgasmus gehabt?“
„Orgasmus? Was ist das?“
Rita hatte nicht glauben können, dass es weit und breit keinen Kerl geben sollte, der zu Kristina passte. „Krristina, des is fei aweng zum Färrrchdn“, hatte sie mit rollendem R geschimpft.
Zum Fürchten fand Rita die Abstinenz ihrer Freundin. Und wenn Rita sich über irgendetwas aufregte, verfiel sie ins Fränkische. Wenn es um Männer oder ums Älterwerden ging, schnellte ihr Blutdruck blitzartig in die Höhe, und ihr Heimatdialekt brach unwillkürlich durch. Und das geschah eigentlich laufend. Dabei hatte Rita sich den Dialekt mit großer Mühe abgewöhnt. Ihrer Ansicht nach passte er so gar nicht zu ihrer gepflegten Erscheinung.
Jaja, Rita. Die hatte leicht reden. Sie war wieder mal frisch verliebt, was kein besonderes Ereignis war. Schließlich war sie dauernd in irgendeinen Kerl verliebt. Für gewöhnlich hielt dieser Ausnahmezustand ein paar Wochen lang an. Dann hatte sie genug und schaltete ohne großes Zaudern zurück in den Single-Modus. Dieses Spielchen praktizierte sie seit ihrer Scheidung von Hubert vor acht Jahren, und sie schien damit glücklich zu sein. Rita pflegte nicht nur ein freundschaftliches Verhältnis zu Hubert, sondern hatte ihn auch zu ihrem Part-Time-Lover gemacht. „Für Notsituationen, denn Hausmannskost hat hin und wieder auch ihren Reiz“, hatte sie erklärt.
Kristina hatte das überhaupt nicht nachvollziehen können. Allein bei der Vorstellung, Peter nach der Scheidung noch mal näher zu kommen, überfiel sie auch jetzt das kalte Grauen.
„Du nimmst das alles viel zu ernst“, hatte Rita erwidert. „Solange du nach der großen Liebe suchst, übersiehst du all die vielen hübschen Möglichkeiten, die es sonst noch gibt. Die Männer warten doch nur darauf. Neun von zehn haben praktisch einen Henkel zum Mitnehmen. Da musst du nur zugreifen.“
Kristina wusste, dass sie damit nicht ganz unrecht hatte. Auch Justus Claussen hatte diesen Henkel. Aber was sollte sie denn machen, wenn bei ihm ihre Libido einfach nicht reagierte?
Offenbar hatte Rita es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kristina zu verkuppeln. Sie hatte unerschöpfliche Ideen für Kontaktbörsen, die Kristina nur aufsuchen musste. Speed-Dating, Fitnessklub, Golfkurs, Fußballstadien, Kneipen, Internet. „Männer haben ihre festen Plätze“, hatte Rita ihr erklärt. „Und genau da musst du hingehen. Die findest du nicht beim meditativen Tanz, beim Pilates oder in der Damenabteilung eines Kaufhauses, sondern beim
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