Roman
erlebt hatte. Kristina war froh, dass er sich nicht nach Tom erkundigte. Sie hatte überhaupt keine Lust zu reden, sondern wollte ihm einfach nur zuhören. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend parkte sie direkt vor dem Haus, in dem Philipp und der, dessen Name nun tabu war, wohnten. Beim Aussteigen schaute sie unwillkürlich an dem Gebäude hinauf. Sie half ihrem Sohn noch, seine Sachen in seine Wohnung zu tragen. Das flaue Gefühl nahm noch zu, als sie im ersten Stock an Toms Tür vorbeikam. Was würde ich tun, wenn er jetzt herauskäme?, überlegte sie kurz. Sie hoffte inständig, dass ihr das erspart bleiben würde – und ihr Stoßgebet wurde erhört. Als Philipp seine Wohnungstür aufschloss, atmete Kristina auf. Sie stellte seine Reisetasche im Flur ab und sah sich um. Auf der Kommode entdeckte sie die gestapelte Post, doch Sophie schien nicht da zu sein.
Philipp gähnte. „Ich hau mich erst mal aufs Ohr.“
„Dann lass ich dich mal wieder allein“, meinte Kristina. „Wir sehen uns am Samstag.“
Ihr Sohn umarmte sie. „Samstag?“
„Ja, Papa und Charlotte kommen aus Südafrika zurück. Sie wollen uns abends zum Essen einladen. Familienzusammenführung“, sagte sie und verdrehte die Augen.
Philipp zog die Brauen hoch. „Cool. Dann lerne ich seine Angebetete endlich kennen.“
„Sagst du Sophie Bescheid?“
„Okey-dokey!“
Daraufhin ging Kristina. Auf leisen Sohlen stieg sie die Treppe hinunter. Als sie an Toms Wohnung vorbeikam, verharrte sie kurz. Von drinnen war jedoch kein Laut zu hören – dafür aber von unten. Irgendwer betrat gerade das Haus. Kristina erstarrte, als eine Stimme ertönte. Kein Zweifel, es war die von Tom. Sie wagte sich bis ans Geländer vor und spähte verstohlen nach unten. Tom kam die Stufen hinauf, dicht gefolgt von diesem Weib. Kristinas Hirn arbeitete auf Hochtouren. Sie konnte keinesfalls hier stehen bleiben und darauf warten, dass die beiden auftauchten. Natürlich konnte sie weitergehen, die Begegnung mit ihm herbeiführen und ihm eine ordentliche Szene machen. Kristina stellte sich vor, wie sie sich ihm schreiend an den Hals warf und mit den Fäusten gegen seine Brust hämmerte. Augenblicklich verwarf sie diese Idee. Ich mach mich hier doch nicht zum Deppen – oder zum Kaschber, wie Rita sagen würde. Nein, diesen Triumph würde sie Tom nicht gönnen.
Also schlüpfte sie aus den Schuhen und schlich auf Zehenspitzen wieder hinauf bis ins dritte Stockwerk, in dem Philipp wohnte. Dort hockte sie sich hin, steckte den Kopf durchs Geländer und sah hinunter. Regungslos beobachtete sie, wie die Schwarzhaarige hinter Tom nach oben stolzierte. Behutsam schob Kristina den Kopf noch ein Stück weiter nach vorne, um die beiden besser erkennen zu können. Inzwischen hatten die zwei die Wohnungstür erreicht, und Tom suchte nach seinen Schlüsseln.
„So ein Mist“, fluchte er.
„Was ist?“, fragte seine Begleiterin.
„Ich hab die Schlüssel im Büro liegenlassen. Verflucht.“
Die Frau lachte. „Bin ich froh, dass dir das auch mal passiert.“
„Sehr witzig“, maulte Tom. „Willst du hier warten?“
„Nein, ich komme mit“, sagte sie.
Die beiden gingen wieder die Treppe hinunter. Kristina wartete, bis die Haustür ins Schloss gefallen war. Dann wollte sie aufstehen – und kam nicht von der Stelle. Ihr Kopf steckte zwischen zwei Geländerstreben fest. „Das gibt’s doch nicht!“, fluchte sie und versuchte, die Stäbe mit den Händen auseinanderzuschieben und den Kopf herauszuziehen. Die Ohren stellten dabei jedoch ein unüberwindbares Hindernis dar. „Verdammt.“ Sie war doch auch irgendwie hineingekommen. Doch es war sinnlos. Sosehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nicht, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Sie saß fest. Bleib ruhig und denk nach, mahnte sie sich im Stillen. Sie musste hier weg, bevor Tom zurückkam. So durfte er sie auf keinen Fall sehen. Ob ich Philipp rufe? Was für eine peinliche Situation, wenn mich mein eigener Sohn so sieht. Nein, das kam auch nicht in Frage. Rita musste her und sie befreien.
Kristina suchte nach ihrer Handtasche. Vorsichtig fischte sie das Mobiltelefon heraus. Nicht fallen lassen, schärfte sie sich ein und wählte mit zittrigen Fingern Ritas Nummer. „Geh ran“, flehte sie, „bitte nimm ab!“ Ihr Flehen wurde erhört.
„Libowski.“
„Rita“, stöhnte Kristina erleichtert, „gut, dass du da bist. Du musst mich retten!“ Daraufhin erklärte sie Rita in aller Kürze,
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