Romana Exklusiv 0172
intakten Elternhaus aufwachsen, gestand sie sich ein.
Ich darf nicht sentimental werden, mahnte sie sich sogleich und dachte wieder über den Brief nach. Warum wollte Ruy seinen Sohn unbedingt sehen?
Nach der Trennung war sie überzeugt gewesen, er würde die kurze Ehe mit ihr rasch vergessen. Auf seinen Wunsch hatten sie sich katholisch trauen lassen. Aber er kam aus einer angesehenen, einflussreichen Familie, und man hätte sicher Mittel und Wege finden können, die Ehe annullieren zu lassen. Seine Mutter war von Anfang an gegen die Heirat gewesen. Die Condesa de Silvadores hatte Davina verachtet und ihr das Leben schwer gemacht.
Als der Flieger in Sevilla gelandet war, kümmerte die Stewardess sich um Jamie. „Was für ein schönes Kind“, sagte sie, während Davina ihre Sachen zusammenpackte. „Er hat wenig Ähnlichkeit mit Ihnen, oder?“
„Stimmt, er kommt auf seinen Vater“, erwiderte Davina kurz angebunden.
Die Stewardess konnte nicht wissen, wie viel Überwindung Davina diese Bemerkung kostete. Nur ungern gab sie zu, wie sehr Jamie seinem Vater ähnelte, einem Vater, der ihn nicht hatte haben wollen, der ihn nie gesehen und ihm weder zum Geburtstag noch zu Weihnachten etwas geschenkt hatte. Sogar den Brief hatte er nicht selbst geschrieben. Stattdessen hatte seine Mutter Davina aufgefordert, in den Palacio de los Naranjos, den Familiensitz der Silvadores, zurückzukommen. Der Palast lag inmitten von Orangenplantagen, deren angenehmer, süßlicher Duft schon frühmorgens die Luft erfüllte.
Bei der Erinnerung daran erbebte Davina. Die Stewardess glaubte offenbar, ihr sei kalt, und führte sie rasch zum Flughafenterminal.
Es war schon dunkel. Davina ging mit Jamie auf dem Arm durch die Passkontrolle hinaus in die so weich und sanft wirkende Nacht. Spanien! Schon allein der ganz spezielle Duft weckte unendlich viele Erinnerungen. Während der Flitterwochen war sie Hand in Hand mit Ruy durch die Orangenplantagen gewandert. Bei Vollmond hatten sie sich unter den Bäumen im Park zum ersten Mal geliebt. Sie war damals unvorstellbar glücklich gewesen und hatte geglaubt, Ruy liebe sie. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, Ruy hätte sie nur deshalb verführt und geheiratet, um die Frau, die er wirklich liebte, zu bestrafen oder ihr etwas zu beweisen.
Davina war überzeugt gewesen, so etwas wie das Paradies gefunden zu haben. Doch in jedem Paradies gab es eine Schlange, und diese Schlange war Ruys Mutter gewesen. Die Frau hatte Davina so sehr gehasst, dass sie ihr eines Tages die ganze Wahrheit brutal und schonungslos an den Kopf geworfen hatte.
Und jetzt wollte Ruy seinen Sohn sehen, den einzigen, den er jemals haben würde, wie in dem Brief gestanden hatte. Jamie sei der Erbe des riesigen Vermögens, sein Platz sei bei seinem Vater, damit er früh genug lerne, mit der großen Verantwortung umzugehen, hatte es geheißen. Davina war klar, dass Ruy Recht hatte. Sie konnte sich jedoch nicht erklären, warum er die Ehe nicht hatte annullieren lassen. Dann hätte er die Frau heiraten können, die er schon immer geliebt hatte und die die Mutter seines Sohns hätte sein sollen.
Man hatte ihr mitgeteilt, sie würde am Flughafen abgeholt. Davina bezahlte den Gepäckträger, der ihre Koffer neben ihr abstellte und sie bewundernd betrachtete. Ihre Gesichtszüge waren perfekt und wirkten aristokratisch, ihre Lippen waren schön geschwungen, und ihre Haut war so fein wie edles Porzellan. Die großen amethystfarbenen Augen wurden von dichten, langen Wimpern umrahmt.
Ruy hatte behauptet, sie sei die schönste Frau, die er jemals kennengelernt habe. Aber er hatte es nicht ernst gemeint.
„Davina?“
Aus dem großen Mercedes, der vor ihr angehalten hatte, stieg ein junger Mann.
„Sebastián?“ Sie blickte ihren Schwager verblüfft an.
„Lass mich den Jungen tragen, er ist sicher zu schwer für dich.“ So geschickt, wie sie es ihm nicht zugetraut hätte, nahm er Jamie auf den Arm und setzte ihn ins Auto. Vor vier Jahren war Sebastián neunzehn gewesen und hatte Weinbau studiert, um eines Tages die Weingüter der Familie zu leiten. Jetzt, mit dreiundzwanzig, sah er viel reifer und erwachsener aus. Obwohl er seinem Bruder sehr ähnelte, fehlten ihm Ruys Charme und seine geschmeidigen Bewegungen. Ruy war schlank und muskulös, während sich bei Sebastián erste Anzeichen dafür bemerkbar machten, dass er zum Dickwerden neigte.
Sebastián war auch nicht so groß wie Ruy. Dennoch war er ein attraktiver junger
Weitere Kostenlose Bücher