Romana Exklusiv 0186
durchlief sie ein Schauder. Es war beunruhigend zu entdecken, dass sie zu etwas fähig war, an das sie sich später nicht mehr erinnern konnte. Madame Lilian hatte ihr einmal erklärt, Menschen seien manchmal auf Gedeih und Verderb inneren Triebkräften ausgeliefert, die sie nicht ganz verstehen könnten. Seien zu Handlungen angetrieben, die in keinem Zusammenhang zu ihrem normalen Verhalten standen, und das aufgrund bestimmter traumatischer Erlebnisse, mit denen sie nicht fertig wurden.
Bliss fasste ihr Haar im Nacken zusammen und trug ein wenig Make-up auf, um nicht ganz so bleich auszusehen. Fünf Minuten später stieg sie die Treppe zum Deck der Stella Maris hinauf. Viele Meilen trennten sie von jenen Räumen in Westminster, wo Madame Lilian die Tarotkarten legte und versuchte, die Schleier zu lüften, die das Schicksal eines jeden Menschen geheimnisvoll umhüllten.
Bliss’ Schicksal stand als große, dunkle Gestalt am anderen Ende des Decks. Und während die Jacht auf die Kliffs von Dovima zusegelte, ging Bliss hinüber und trat an seine Seite. Jetzt, nach dem Sturm, ging die Sonne in einem prächtigen Farbenschauspiel unter, bei dem sich leuchtendes Gold mit tiefem Violett vermischte. Wie herausgemeißelt aus einem in Flammen stehenden Stein wirkten die Felsen an der Küste, und die Schönheit des Anblicks raubte Bliss den Atem.
Der Bug der Jacht durchschnitt das golden schimmernde Wasser, und Lukas warf Bliss einen unpersönlichen Blick zu. „Diese Inseln“, erklärte er, „waren einst die Handelsmärkte der Venezianer und gleichzeitig ihre Flottenstützpunkte. Bei Tageslicht betrachtet, wirkt Dovima wie ein sich in der Sonne aalender, großer goldener Löwe. Es ist eine einsame Insel, die mir von Anfang an gefallen hat.“
Das Wort „einsam“ hatte er schon einmal verwendet, und Bliss merkte, wie sehr es auf ihn zutraf, trotz seines finanziellen Erfolges, der ihm den Umgang mit Menschen erlaubte, die das gesellschaftliche Leben genossen. Diese Insel in der Ägäis war viel eher seine Welt als der Club in der Curzon Street oder das Haus im Moor von Yorkshire, wo Bliss hingehörte.
Die Jacht umrundete die Landspitze der Inselbucht, wo sie vor Anker ging. Ein Boot wurde herabgelassen, sodass Bliss und Lukas an die Küste gerudert werden konnten, die unter den mächtigen, die Insel schützenden Felsen lag.
Ein an der Felswand angebrachter Aufzug mit Seilwinde brachte sie hinauf zur Landspitze, wo ein Range Rover bereitstand, um sie zur Villa zu fahren. Am Steuer des Wagens saß ein Diener mit schwarzem lockigen Haar, und während er über ziemlich holperiges Gelände fuhr, warf er Bliss hin und wieder einen neugierigen Blick zu. Das also, schien sein Blick zu sagen, ist die englische Braut meines griechischen Herrn … dieses blassgesichtige Mädchen in einem Nerzmantel, in das es sich kuschelt, als würde es frieren.
Wo blieb ihr Lächeln? Und warum saß sie so weit weg von ihrem Bräutigam, wo sie doch dicht an seiner Seite sein sollte?
Bliss kannte die Fragen, die diesem Mann durch den Kopf gingen. Einer der Seeleute auf der Jacht hatte sie ähnlich angesehen, beinahe finster, als er den Hochzeitsgästen Champagner serviert hatte. So als wollten diese Leute sie nicht als ihre Herrin haben.
Sie verstand ihre Gefühle. Natürlich wäre es ihnen lieber gewesen, wenn ihr Herr ein griechisches Mädchen zur Frau genommen hätte, dunkelhaarig und mit dunkler Haut, das mit dieser urwüchsigen Landschaft und der rauen, stürmischen See vertraut war.
Aber sie sollten sie einmal sehen, wenn sie auf dem Rücken ihres Pferdes übers Moor ritt, mit im Wind wehendem Haar und Augen, die vor Freude über die Landschaft und den Galopp strahlten. In ihrer Umgebung zu Hause war sie genauso von Leben und Vitalität erfüllt wie jedes griechische Mädchen.
Sie hatte sie geliebt, diese langen, idyllischen Sommer, wenn an den Hängen des Hochmoors der Stechginster blühte. Schon bei Anbruch der Morgendämmerung hatte sie das Haus verlassen, um ja keinen Augenblick des Tages zu verlieren, jung und unbekümmert und ahnungslos vom Spielfieber ihres Vaters, mit dem er ihr und Justins Erbe verschleuderte.
Sie erschrak plötzlich, als Lukas ihre Hand nahm. „Bald wirst du die alten venezianischen Mauern sehen, die die Villa umgeben. Sie waren noch vollständig erhalten, und es wäre ein Verbrechen gewesen, sie niederzureißen. Mein Liebling, wie kalt deine Hand ist! Du hast dich doch hoffentlich nicht erkältet. Das
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