Romana Extra Band 6
eine Überlegung wert wäre.“ Er lächelte. „Nun, wir sind gleich da. Schauen Sie.“
Und schon wieder schaffte er es, Rosalie zu überraschen, als sie ein Stück den Strand hinunter zwei Stühle und einen Bistrotisch erblickte, auf dem in einer Vase aus Kristallglas eine einzelne zartgelbe Rose stand. Das Arrangement wurde von einem schroffen Felsen vor neugierigen Blick geschützt.
Ein Kellner im Frack, ein weißes Handtuch über den angewinkelten Arm gelegt, stand in diskretem Abstand ein paar Meter entfernt. Neben ihm ein Servierwagen mit abgedeckten Menütellern, die auf einem Rechaud warm gehalten wurden. Unwillkürlich fragte Rosalie sich, wieso Laurent einen so alten Wagen fuhr, wenn er sich Derartiges leisten konnte. Aber es war eindeutig der falsche Augenblick, um sich über so etwas Gedanken zu machen.
„Das ist ja …“ Ungläubig schüttelte Rosalie den Kopf. Am liebsten wäre sie Laurent um den Hals gefallen, so sehr rührte sie dieser wunderbare Anblick. Niemand hatte jemals etwas Vergleichbares für sie getan. Doch dann besann sie sich auf kühle Zurückhaltung. „Ich muss schon sagen“, erklärte sie steif, „Sie haben sich ganz schön ins Zeug gelegt. Dieser ganze Aufwand wäre aber wirklich nicht notwendig gewesen.“
Etwas an der Art und Weise, wie er sie anlächelte, ließ Rosalie innerlich erzittern. Mach dir nichts vor, rief sie sich zur Ordnung. Laurent Colbert ist der geborene Charmeur, der daran gewöhnt ist, dass ihm die Frauenherzen zufliegen. Dieses Lächeln, das nur dir zu gelten scheint, hat er vor dir sicher schon Dutzenden anderen Frauen geschenkt.
Der Kellner trat auf sie zu und rückte zuerst Rosalie und dann Laurent den Stuhl zurecht. „Mademoiselle, Monsieur – guten Abend. Ich ’offe, Sie ’aben großen Appetit mitgebracht – unser chef de cuisine hat sich ’eute selbst übertroffen!“ Wie die meisten Franzosen sprach er Englisch mit starkem Akzent.
„Ich sterbe vor Hunger“, erwiderte sie fließend auf Französisch und lachte. „Ich kann nur hoffen, dass das Menü hält, was der Küchenchef verspricht!“
„Sie sprechen sehr gut Französisch“, stellte Colbert fest, als sie wieder unter sich waren.
„Kein Wunder. Ich habe bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr bei meinem Großvater in Laurins-les-Fleurs gelebt“, erklärte Rosalie. „Danach beschloss meine Mutter, mich zu sich nach England zu holen.“
Er schüttelte mitfühlend den Kopf. „Das ist für Sie sicherlich nicht leicht gewesen. Gerade für Kinder ist eine solche Umstellung schwer.“
Irgendwie schaffte er es immer wieder, Rosalie zu überraschen. Hatte sie ihn womöglich falsch eingeschätzt, und er war gar kein solcher Widerling, wie sie zuerst geglaubt hatte?
Der Ober schenkte ihnen Wein ein, den Rosalie viel zu hastig hinunterstürzte. Doch das warme Gefühl im Bauch half ihr dabei, ihre Nervosität ein wenig in den Griff zu bekommen. Sie atmete tief durch. „Leicht war es nicht“, gab sie zu. „Ich hatte meinen grand-père sehr gern, und meine Mutter war beruflich immer viel unterwegs, sodass ich sie manchmal wochen- oder gar monatelang nicht zu Gesicht bekam.“
„Aber … warum hat sie Sie dann zu sich geholt?“
Rosalie hob die Schultern. „Um ehrlich zu sein, das weiß ich selbst bis heute nicht so genau. Es gab einen heftigen Streit zwischen ihr und grand-père , so viel habe ich damals mitbekommen. Worüber, das konnte ich jedoch nie herausfinden. Sandrine, meine Mutter, weigerte sich stets, mit mir darüber zu sprechen. Was blieb mir also anderes übrig, als mich damit abzufinden?“
Colbert wirkte ehrlich interessiert. „Waren Sie nie versucht, mit Ihrem Großvater Kontakt aufzunehmen, um ihn nach seiner Version der Geschehnisse zu fragen?“
„Doch, natürlich“, entgegnete Rosalie. „Aber Sie kannten meine Mutter nicht. Sandrine konnte … Ich würde es einmal so ausdrücken: Sie konnte sehr überzeugend sein, wenn sie wollte. Und was hätte es genützt? Wenn grand-père daran interessiert gewesen wäre, mit mir in Verbindung zu bleiben, dann hätte er sicher einen Weg gefunden. Doch er zog es vor, sich in Schweigen zu hüllen, und das habe ich akzeptiert.“
„Was ist mit Ihrer Mutter? Wie ist Ihre Beziehung zu ihr?“
Rosalie zuckte mit den Achseln. Obwohl sie versuchte, die Erinnerungen zurückzuhalten, wühlte seine Frage sie innerlich auf. „Man kann nicht gerade sagen, dass wir eine alltägliche Mutter-Tochter-Beziehung gehabt hätten“,
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