Romana Extra Band 6
genug, um sich zu fragen, ob die allmächtigen Geister, die in den heiligen Stätten hausten, sie vielleicht als Eindringlinge betrachteten. Falls ihre Taschenlampe jetzt versagte, würde sie in der Dunkelheit vor Angst laut schreien.
Ob Varo und sie jemals aus der Höhle herauskommen würden? Eine Mädchenklasse war vor Jahren spurlos darin verschwunden …
Später überlegte Ava, ob sie Varo folgen sollte, aber dann blieb sie doch lieber dort, wo sie war. Sie hasste Räume, in denen sie sich gefangen fühlte. Es war ihr sogar unangenehm, allein Lift zu fahren. Auch die modernsten konnten plötzlich versagen. Nein, sie musste weiter warten und Varos gesunder Urteilskraft vertrauen – so, wie sie Devs vertraut hatte.
Minute um Minute verging. Wie lange sollte sie sich noch gedulden? Sie wartete jetzt fast eine Dreiviertelstunde, und ihre Zuversicht schwand. Männer und ihre Abenteuerlust! Immer am Rand des Abgrunds entlang! Frauen dachten viel mehr an die Gefahren und die möglichen Folgen. Sie waren vorsichtiger und würden nie einen Krieg anfangen.
Ein Vogel – es war ein Falke – verirrte sich in die Höhle. Ava schrie erschrocken auf, wie die armen Vögel, die dem Falken als Beute dienten, aber im nächsten Moment war er schon wieder fortgeflogen. Erregt sprang sie auf, denn sie hörte plötzlich etwas. Sekunden später tauchte ein Lichtstrahl im Gang auf. Gott sei Dank! Varo kam zurück.
Mit den Armen voran tauchte er aus dem engen Eingang auf. „Varo!“, rief sie, teils erleichtert und teils verstört.
Er stand schnell auf und nahm sich nicht einmal Zeit, Atem zu holen. Ein überaus zufriedener Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Du musst unbedingt mitkommen“, sagte er, nahm den Schutzhelm ab und strich sich durch sein zerzaustes Haar. „Es ist fantástico !“ Er reichte Ava die Hand. Sie war kalt, als käme er aus einem Schneesturm. „Etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen.“
„Ähnlich wie was?“, fragte sie, jetzt selbst voller Spannung.
„Das verrate ich nicht … du musst es selbst erleben. Ich sage nur, dass es eine sehr enge und niedrige Stelle gibt, durch die ich mich hindurchquetschen musste. Für dich wird es ein Kinderspiel sein.“
„Darf ich mich weigern?“ Das sollte komisch sein und verriet doch nur ihre große Angst.
„Natürlich, aber es besteht wirklich keine Gefahr. Wie es danach weitergeht, weiß ich nicht. Das Risiko könnte zu groß sein, wenn man nicht gut genug ausgerüstet ist. Aber bis dahin ist alles sicher.“ Varo bückte sich und hob Avas Schutzhelm auf. „Hier … setz ihn auf. Mit mir kann dir nichts passieren. Vergiss deine Taschenlampe nicht. Du bringst dich um ein großes Erlebnis, wenn du nicht mitkommst.“
Er glühte förmlich vor Begeisterung. So muss Howard Carter ausgesehen haben, als er vor neunzig Jahren das Grab des Tutanchamun öffnete, dachte Ava und setzte den Helm auf.
„Dann los. Du gehst voran.“
An der engen Stelle, die Varo erwähnt hatte, wurde ihr vorübergehend etwas mulmig zumute. Sie wollte schreien, aber dazu fehlte ihr die Luft. Wonach roch es eigentlich? Irgendwie nach Strand – nach Salz, Sand und Fisch. Wie war das möglich?
Gerade, als sie sich flach hinlegen und einige Minuten ausruhen wollte, wurde der Gang breiter und höher. Varo war bereits weitergekrochen, reichte ihr die Hand und zog sie hinter sich her. Sie befanden sich auf einer etwa drei mal drei Meter großen Kalksteinplatte, von der kleinere Platten treppenartig auf den Grund der Felsenkammer führten. Der Anblick war so unwirklich, so fantastisch, dass Ava fast nicht hinsehen konnte.
Allmählich wich ihre Angst. Ihr Atem wurde ruhiger. Varo hatte schützend den Arm um sie gelegt. In seiner Nähe wurde sie zu einem ganz neuen Menschen. So sehr liebte sie ihn.
„Nun?“, fragte er und nahm ihr die Kopfbedeckung ab.
Seine freudige Erregung steckte Ava an. „Allmächtiger“, flüsterte sie andächtig. „Das ist ja fantastisch …“
Stalagmiten, Stalaktiten – Ava wusste nie, was das eine und was das andere war –, erstarrte Wasserfälle, die wie Vorhänge wirkten, riesige, aus braunem Schlamm geformte Pilze – die seltsamsten Gebilde füllten den großen Hohlraum. In einer Ecke schien eine Orgel zu schweben, die wie Donner klingen musste, wenn sie von Geistern gespielt wurde.
Der Geruch nach Meer und Fischen fiel hier noch stärker auf als im Gang, obwohl alles trocken war. Es gab keine Pfützen, nirgendwo tropfte es, und einen
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