Romana Extra Band 6
Rabatten. Das Dach des Schuppens, in dem die Gartengeräte lagerten, war eingebrochen, und zwischen den Kletterrosen rankte sich wilder Efeu empor.
Es war ein Bild des Jammers, das Rosalie schier das Herz brach. Sie wusste doch, wie sehr ihr Großvater an der Roseraie gehangen hatte!
Möglicherweise war es schon damals mit ihm bergab gegangen, als es zwischen ihm und Sandrine zum Bruch kam. Hatte François sich vielleicht nie verziehen, seiner einzigen Tochter und seiner Enkelin den Rücken zu kehren?
Rosalie hatte ihren grand-père sehr gern gehabt und wäre mit Freuden für immer bei ihm in Laurins-les-Fleurs geblieben. Doch eines Tages hatte ihre Mutter mit einem fertig gepackten Koffer nach der Schule auf sie gewartet und ihr erklärt, dass sie zusammen mit ihr nach England kommen solle. Was genau zwischen ihr und François vorgefallen war, hatte Rosalie nie erfahren. Fest stand nur, dass Sandrine – ihre Mutter hatte es ihr schon als Kind verboten, sie mum oder gar maman zu nennen, weil sie fand, dass es sie alt wirken ließ – furchtbar wütend auf ihren Vater gewesen war, wobei es sich umgekehrt ebenso verhielt. Der Zwist ging so tief, dass François Baillet seine einzige Tochter des Hauses verwiesen hatte.
Und zusammen mit ihr war seine Enkelin fortgegangen.
Damals war für Rosalie eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte nicht verstanden, warum sie nicht mehr bei grand-père wohnen, ja, warum sie sich nicht einmal von ihm verabschieden durfte. Warum hätte er sie einfach so, ohne ein Wort der Erklärung, verstoßen sollen? Verzweifelt hoffte sie auf ein Zeichen ihres Großvaters. Einen Anruf, einen Brief, irgendetwas. Doch sie wartete vergebens. Und irgendwann blieb ihr keine andere Wahl mehr, als einzusehen, dass Sandrine die Wahrheit gesagt hatte, als sie ihr erzählte, dass ihr Großvater nichts mehr von ihr wissen wollte. Zudem hatte sie ihrer Tochter jeden weiteren Kontakt mit ihm untersagt.
Später, als Teenager, wenn Rosalie wieder einmal wegen irgendeiner Kleinigkeit mit ihrer herrischen Mutter im Clinch lag, spielte sie ab und an mit dem Gedanken, sich über deren Verbot hinwegzusetzen und auf eigene Faust nach Frankreich zu reisen, um ihren grand-père zu besuchen. Doch dann hatte sie sich immer wieder vor Augen geführt, dass François Baillet seinerseits nie einen Versuch unternommen hatte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Und so war es schlussendlich nie dazu gekommen.
Heute fragte sich Rosalie, ob er seine Entscheidung womöglich bereut und es einfach nur nicht geschafft hatte, über seinen eigenen Schatten zu springen. Sie konnte es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber eines stand fest: Irgendwann hatte grand-père angefangen, die Dinge schleifen zu lassen. Und zum Schluss schien er sich, außer um seine geliebten Rosen, um überhaupt nichts mehr gekümmert zu haben. Die jetzige Situation der Rosenzucht als Katastrophe zu bezeichnen, wäre noch geschönt gewesen. Kein Wunder, dass François keine andere Lösung gesehen hatte, als einen Verkauf in Erwägung zu ziehen.
Aber warum zerbrach sie sich darüber überhaupt den Kopf? Ihr grand-père war tot, ihn kümmerte es nicht mehr, was mit der Rosenzucht geschah. Und sie wollte doch ohnehin schnellstmöglich alles verkaufen. Oder?
Nun, so ganz sicher war sie sich da inzwischen nicht mehr. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sie hatte zu Hause in London Verpflichtungen – eine Wohnung, Freunde und Bekannte, ihren Job … Die Roseraie Baillet war eine Vollzeitaufgabe, das wusste sie noch von früher. Seine Tage hatte François Baillet in den weiten Gärten beim Stutzen der Rosenstöcke und bei der Pflege der jungen Stecklinge verbracht. Und das trotz all der Helfer, die er damals noch beschäftigen konnte. Sie erinnerte sich gut daran, wie er abends mit seinem Zuchtbuch vor dem prasselnden Kaminfeuer gesessen und an neuen Kreuzungen für besonders prachtvolle neue Sorten getüftelt hatte, während sie zu seinen Füßen auf dem Schaffell mit ihren Puppen spielte.
Sie schüttelte den Kopf. Nein, nein, es war einfach unmöglich, die Rosenzucht mit ihrem Leben unter einen Hut zu bringen. Aber machte nicht gerade das einen gewissen Reiz aus?
Sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn in diesem Moment klingelte das Telefon vor ihr auf dem Tisch.
„Allô?“ , meldete sie sich. „C’est la Roseraie Baillet, je …“
„Sind Sie das, Mademoiselle Twinstead?“
Rosalie erkannte die Stimme sofort. Er war es. Es erstaunte
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