Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Schwanz band – säße heute in der Jugendpsychiatrie, um dort von besorgten Therapeuten an die Normen der Gesellschaft herangeführt zu werden. Der Ehrgeiz der Moralwächter hat sich eben verlagert, auf neue Felder.
Von der Tugendrepublik handelt das Theaterstück Der Gott des Gemetzels, es ist auch verfilmt worden. Die französische Autorin Yasmina Reza beschreibt die Begegnung zweier Elternpaare, wohlhabender Leute von heute. Die Kinder haben sich geprügelt, nun statten die Eltern des Täterkindes den Eltern des Opferkindes einen Besuch ab, um sich zu entschuldigen. In der Welt von Mad Men wäre man über die Prügelei vermutlich achselzuckend hinweggegangen. In einer Tugendrepublik wird alles in ein helles Licht gerückt, es wird nach Ursachen gesucht, bis man welche findet, es wird geredet, bis alles geklärt ist, nichts wird so leicht vergessen oder vergeben, und das wichtigste Bußritual ist die Entschuldigung, die bei einer öffentlichen Person natürlich eine öffentliche Entschuldigung sein muss. Erwartungsgemäß endet Der Gott des Gemetzels in gegenseitiger Demütigung und Selbstzerfleischung. Wenn über alles geredet wird, dann wird halt auch alles zerlegt.
Die Maßstäbe für richtiges und falsches Verhalten hat lange Zeit die Religion gesetzt. Es gab einen Katalog von Sünden, es gab genau definierte Bußrituale, es gab auch die schöne Idee der Gnade und der Vergebung. Religion war ein Regelwerk zur Bearbeitung von Schuld. Seit die Mehrheit nicht mehr und höchstens pro forma religiös ist, wird das Gewichteiner Sünde vom Barometerstand der öffentlichen Meinung bestimmt, vom geschickten oder unbeholfenen Verhalten des Sünders, und an die Stelle der Gnade ist das Vergessen getreten; weil so viel auf sie einstürzt, vergessen die Leute schnell. Nur das Internet vergisst nichts. Die »Jugendsünde« ist deshalb vom Aussterben bedroht, ebenso wie das Recht, jung und dumm zu sein. Die Verfehlungen eines heute Sechzehnjährigen können ihm zwanzig Jahre später die Karriere zerstören. Wo Gott war, da ist jetzt eben Google.
Ein besonders bizarrer Vorfall hat sich 2012 in Hamburg ereignet: der Negerpuppen-Skandal. Die Autorin Sarah Kuttner, 33 Jahre alt, stellte einen Roman mit autobiografischem Hintergrund vor. In »Wachstumsschmerz« geht es um Dreißigjährige, die Schwierigkeiten damit haben, ihre Jugend hinter sich zu lassen und ins Lager der endgültig Erwachsenen überzuwechseln. Sarah Kuttners Protagonistin hat als Kind eine Negerpuppe besessen, ein Geschenk ihrer Eltern. Die Romanfigur wundert sich rückblickend über dieses rassistische Spielzeug mit seinen »prallen, aufgenähten Wurstlippen«, sie wundert sich über ihren »unschuldigen Rassismus« von einst und kommt zu dem Schluss: »Undenkbar, dass so etwas heute noch verkauft würde.«
Im Publikum sitzt ein dunkelhäutiger Mann. Er regt sich auf. Er fühlt sich rassistisch beleidigt. Er hört nur die Worte – Negerpuppe, Wurstlippen – und begreift in seiner Aufregung nicht, dass er gerade eine antirassistische Geschichte gehört hat. Er versteht nicht, dass man auch die Dinge, von denen man sich distanziert, erst einmal klar benennen muss und dass es in Texten immer auf den Zusammenhang ankommt. Es wäre ja auch unmöglich, über Nazipropaganda zu schreiben, ohne mit Hilfe von Zitaten klarzumachen, worum essich dabei handelt. Das alles versteht der Mann nicht. Er geht nach der Lesung in Sarah Kuttners Garderobe. Die Autorin sagt ihm, dass sie dieses unangenehme Wort »Negerpuppe« verwendet habe, weil solche Puppen in ihrer Kindheit nun einmal existiert hätten und so genannt worden seien. Daraufhin ruft der Mann die Polizei. Zwei Polizisten erscheinen, während Kuttner signiert. Sie nehmen die Anzeige des Mannes auf. Es gibt ein Aktenzeichen.
In der Welt erscheint die Überschrift »Minderbemittelte« Kuttner faselt über »Negerpuppe« . Das Wort »minderbemittelt« ist ein Zitat. Kuttners ehemaliger Moderatorenkollege Mola Adebisi, er ist schwarz, nennt sie so. Kuttner habe sich auch früher schon rassistisch geäußert, in Witzen. Adebisi sagt: »Ich würde mich freuen, wenn sie mal Judenwitze machen würde, dann wäre ihre Karriere nämlich beendet.« Auf Kuttners Facebook-Seite stehen bald darauf etwa tausend Hasskommentare.
Böse sind immer die anderen. Man selber darf eine Kollegin ohne weiteres »minderbemittelt« nennen.
Die gemeinsame Eigenschaft aller Tugendwächter ist ihr gutes Gewissen. Die Tatsache, dass
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