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Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Titel: Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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sie im Netz anonym bleiben können, hilft ihnen, gewisse Hemmungen zu überwinden. Und wenn mehrere Tugendwächter zusammenkommen, entsteht der Mob.
    Im Frühjahr 2012 veröffentlichten Autoren einen Aufruf zu einem aktuellen Thema, über das es verschiedene Meinungen gibt, zum Urheberrecht. Wenig später standen die Telefonnummern vieler Unterzeichner im Netz, sie wurden zur Belästigung und Beschimpfung freigegeben.
    Etwa zur gleichen Zeit wurde in der Stadt Emden ein elfjähriges Mädchen missbraucht und ermordet, die Polizeinahm einen Verdächtigen fest, 17 Jahre alt, Berufsschüler. Der Verdächtige stellte sich später, wie so mancher Verdächtige, als unschuldig heraus. Seine Verhaftung wurde allerdings beobachtet. Die Botschaft und die Identität des Jungen verbreiteten sich über Facebook und andere Netzwerke. Bald darauf rotteten sich vor der Polizeiwache etwa 50 Personen zusammen, Männer und Frauen. Sie forderten die Herausgabe des Jungen, damit sie ihn lynchen könnten.
    In den beiden Fällen geht es, auf den ersten Blick, nicht um Tugend. Beim Urheberrecht geht es um einen politischen Streit und in Emden um ein Verbrechen. Beide Male spielte allerdings auch die totale Transparenz eine wichtige Rolle, der gläserne Mensch, in den wir uns nach Ansicht der Tugendwächter verwandeln sollen, einer, von dem die Allgemeinheit alles wissen muss, auch die Telefonnummer und, vor allem, das Vorstrafenregister. Die Allgemeinheit ist dabei gleichzeitig Ermittlungsbehörde, Richter und Vollstrecker.
    Die Springer-Presse steht bei der Verteidigung der Tugend fast immer an vorderster Front. Bild ist ein Rollenmodell für viele Hasskommentare auf Facebook. Von dem Mainzer Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger stammt der Satz: »Die Bild- Zeitung ist eine der wichtigsten Quellen für moralische Urteile in der Bevölkerung.« Aus einem Urteil des Berliner Landgerichts, in dem es um den Bild- Chefredakteur Kai Diekmann ging, stammt der Satz, dass dieses Blatt »bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung anderer sucht«.
    In einem Interview hat der Vorstandsvorsitzende des Hauses Springer, Mathias Döpfner, über die Tugendrepublik etwas sehr Richtiges gesagt: »Totale Transparenz ist totalitär. Ich vergesse nie eine Aussage von Mark Zuckerberg: ›Wernichts zu verstecken hat, hat auch durch Transparenz nichts zu befürchten.‹ Ein fürchterlicher Satz, der hätte auch von der Stasi kommen können.«
    Oder von Bild.
    Zu den inneren Widersprüchen der Tugendrepublik gehört die Tatsache, dass sie einerseits das Risiko brandmarkt, solange es um Alltägliches geht, das Rauchen, das fette Essen, das Nichtanschnallen. Gleichzeitig werden Reservate geschaffen, in die das Risiko ausgelagert wird, es genießt dann durchaus ein gewisses Ansehen und heißt »Abenteuer« – Bungeejumping, Tauchen, Drachenfliegen, Freeclimbing. Ein anderer Widerspruch: Über amoralisches Verhalten von Konzernen in großem Maßstab regt das Publikum sich in der Regel weniger auf als über persönliche Verfehlungen. Es muss sich personalisieren lassen. Und natürlich: Es muss ein Foto geben.
    Am Beginn der modernen Gesellschaft, bürgerlich, frei, kapitalistisch, steht die Französische Revolution, und zwei Führungspersönlichkeiten spielen dabei eine besondere Rolle. Sie heißen Danton und Robespierre, Georg Büchner hat ihnen ein Drama gewidmet. Sie gehören beide zu den Jakobinern, den radikalen Verfechtern von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Danton, ein Anwalt, steigt in der Revolution zum Justizminister auf. Er ist korrupt, er ist fett, er säuft, er frisst, er geht ins Bordell. Sein Gegenspieler Robespierre ist die Tugend selbst, keine Skandale, keine Schmiergelder, keine Frauengeschichten.
    Aber es wird der verkommene Danton sein, der sich schließlich dem revolutionären Terror entgegenstellt: Er fordert ein Ende der Hinrichtungen. Zur Strafe wird er selbst ein Opfer der Guillotine. Robespierre, der Tugendsame, strebt dieWeltherrschaft der Tugend an. So etwas geht immer böse aus. Sogar für Robespierre. Am Ende trennt die Guillotine auch ihm das tugendhafte Haupt vom Rumpf.
    In Büchners Drama heißt es, der Mensch dürfe »vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an«. Für die Robespierres dieser Welt aber ist der Staat eine Erziehungsanstalt. Leider hat sich deren Position langfristig im Großen und Ganzen durchgesetzt.

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