Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Berkéwicz, »Vielleicht werden wir ja verrückt«, in dem sie die Oberflächlichkeit von Harald Schmidt geißelt, außerdem lese ich die Schriften des größten Hellsehers aller Zeiten, Nostradamus. Womöglich hat Nostradamus ja auch etwas über den Suhrkamp-Verlag gesagt.
Und tatsächlich. Bezogen auf das Jahr 2004 heißt es: »Vierzig Jahre wird man keinen Regenbogen sehen, vierzig Jahre lang nur kraftlose Tage. Hunger, Pestilenz. Das Reich der Verwirrung.« Der Regenbogen – damit kann eigentlich nur die Edition Suhrkamp mit ihren Regenbogenfarben gemeintsein. Reich der Verwirrung. Pestilenz. Das klingt aber gar nicht gut.
Dann lese ich im Nostradamus das Horoskop von Ulla Berkéwicz. Sie ist Skorpion, geboren am 5. 11. 1951. Das heißt: leidenschaftlich, stolz, aber auch manchmal tyrannisch. Im Horoskop steht: »Skorpione sind immer interessante Charaktere.«
Das Verlagshaus sieht von außen wie ein Postamt aus den 70er Jahren aus, ein Eindruck, der durch eine große Papierwaage im Fenster noch verstärkt wird. Man sieht Aktenordner, Zimmerpflanzen und noch mal Aktenordner. Ein Mann mit Frank-Zappa-Bart und langen Haaren schaut traurig nach draußen. Am Empfang wartet eine ältere Dame. Ich sage: »Ich bin Deutschlehrer und hätte gern Material über den Suhrkamp-Verlag.«
Die ältere Dame an der Pforte ist sehr freundlich und schleppt Berge von Prospekten herbei. Dann öffnet sich eine Tür, und Ulla Berkéwicz steht vor mir. Offenbar möchte sie zum Mittagessen. Offenbar gibt es sie wirklich.
Graue Jacke, schwarze Hose, schwarze Umhängetasche. Ich glaube nicht, dass sie sich im Pass jünger gemacht hat, das ist nämlich auch so ein Gerücht. Sie sieht wirklich gut aus, aber wirkt abgesehen davon auf den ersten Blick ganz normal. In ihrer Begleitung sind ein Mann mit weißer Arzthose, Brille und Glatze, ein bisschen rundlich, und eine kleine Dunkle mit hellem Mantel.
Jetzt würde man ihr als Fernsehreporter natürlich das Mikrofon unters Kinn halten und knallharte Fragen stellen. »Was sind Ihre Pläne? Wie oft pendeln Sie? Was genau meint Nostradamus mit Reich der Verwirrung?« Ich kann das nicht. Ich bin zu schüchtern für so was.
Ulla Berkéwicz schaut mir lang in die Augen, und dann geht sie mit ihren Begleitern davon. Ich folge unauffällig. Es war nicht geplant. Nur eine Eingebung. Sie gehen um drei, vier Ecken und steuern ein italienisches Restaurant an. Es heißt »Machiavelli«, ausgerechnet, wie der berühmteste Theoretiker der Macht. Der Mann bleibt draußen und telefoniert mit dem Handy. »Können Sie das Wunder möglich machen? Hören Sie, jetzt kommt’s. Unser Partner heißt ...« Nein, ich kann das nicht ausplaudern. Es wäre irgendwie unethisch, oder? Ich meine, die wollen mir nicht mal den Verlagsprospekt geben, und jetzt kenne ich plötzlich ihre Geheimpläne. Das ist mir beinahe unangenehm.
Anschließend gehe ich auf den Verlagsparkplatz, ich weiß auch nicht, warum. Es dämmert. Ich schleiche mich vorsichtig an und schaue durchs Fenster. Da, die Konferenz. Sie haben einen quadratischen Tisch und genau die gleichen Regale wie in der Villa. Sie sitzen da und reden. Die Deckenlampen sind hässlich. Rechts lauter Autorenfotos. Es fängt an zu nieseln. Ich lege den Kopf an die Scheibe und höre ihren Stimmen zu. Es war unjournalistisch, aber ein gutes Gefühl. Hermann Hesse hätte es genauso gemacht. Folge niemandem, sei du selbst.
Die Idiotie des Fortschritts
Die Literatur, schreibt der französische Autor Michel Houellebecq in einem seiner Essays, erobert sich seit ein paar Jahren ihren früheren Rang zurück. Weniger durch eigenes Verdienst, eher durch die Selbstauslöschung ihrer Rivalen. Rockmusik und Kino haben ihren Zauber verloren, schreibt Houellebecq, der selber ein paar Kurzfilme gedreht hat und gelegentlich als Chansonnier auftritt. Schien es nicht eine Zeitlang so, als ließe sich in diesen beiden Sprachen die heutige Welt am besten beschreiben? Beide, Rock und Kino, sind, von einigen wichtigen Ausnahmen abgesehen, Supermarktkünste geworden, glattpoliert im Windkanal des Marktes. Die Literatur aber, das Nischenprodukt, mit dem sich nicht so viel Geld machen lässt wie mit Popsongs, bildet einen Pol des Widerstands. Wogegen? Houellebecq würde sagen: gegen die Welt, so wie sie ist.
In Frankreich gibt es ein Buch, das innerhalb kurzer Zeit 400 000-mal verkauft, das geschmäht, gefeiert und in 24 Sprachen übersetzt wurde. »Elementarteilchen« von Michel
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