Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Houellebecq ist vieles gleichzeitig, utopischer Roman, Entwicklungsroman, politischer Essay, Satire, Pamphlet. Wenn man der »Zeit« glauben darf, können viele Franzosen längere Passagen dieses Buches auswendig. Diese Passage vielleicht, in der das literarische Alter Ego des Autors spricht: »Ich bin Gehaltsempfänger, ich bin Mieter, ich habe meinem Sohnnichts zu vererben. Ich kann ihn keinen Beruf lehren, ich weiß nicht einmal, was er später machen könnte; die gesellschaftlichen Regeln, die ich erlernt habe, werden für ihn sowieso nicht mehr gültig sein, er wird in einer anderen Welt leben. Wenn man die Ideologie des ständigen Wandels akzeptiert, akzeptiert man auch die Vorstellung, dass das Leben eines Menschen auf sein individuelles Dasein beschränkt ist und dass die früheren und zukünftigen Generationen in seinen Augen keinerlei Bedeutung haben. So leben wir jetzt, und ein Kind zu haben hat für einen Mann heutzutage überhaupt keinen Sinn mehr.«
»Elementarteilchen« erzählt den Lebensweg der Halbbrüder Bruno und Michel, beide Anfang 40, aufgewachsen in der liberalen Gesellschaft und den libertären Milieus der Jahre nach 1968. »Elementarteilchen« ist ein Hassgesang gegen dieses 68, gegen den Liberalismus, gegen den Individualismus und gegen den Kapitalismus. An dessen Ende setzt Michel, ein Genforscher, zu einem Quantensprung an: Als Wissenschaftler züchtet er eine neue Spezies Mensch, Klone ohne Geschlecht, die endlich gemeinschaftsfähig sind. Der Mensch wird zum Schöpfer, zum Gott, um sich selbst zu überwinden.
In Westdeutschland ist 68 ein Altherrenmythos geworden, bei dessen Anrufung wir reflexhaft das »Ende des Obrigkeitsstaates« assoziieren. Das ist nicht ganz falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Der Mythos 68 hat ein Janusgesicht, wie fast jede Revolte. Houellebecq beschreibt seine Schattenseite. Das vermeintlich antikapitalistische 68 als letzte gnadenlose Beschleunigung des Kapitalismus, als Zerstörung der letzten Verbindlichkeiten.
Houellebecq wurde 1958 geboren. Seine Mutter war Ärztin und Hippie. Das Kind behinderte sie bei ihrer Selbstverwirklichungund beim Kommuneleben, sie gab es zu den Großeltern, die Kommunisten waren. Houellebecq kam in ein Internat, litt, studierte Informatik, arbeitete als Programmierer. So kalt wie Houellebecq kann nur schreiben, wer vor Sehnsucht nach Wärme fast umgekommen ist.
Man könnte sagen: Er gehört zur Generation der 68er-Opfer. Sie haben ihm, aus ideologisch überhöhtem Egoismus, seine Kindheit gestohlen. Nun ruft er in seinen Büchern unablässig nach dem, was ihm gefehlt hat: Liebe, Brüderlichkeit, Zärtlichkeit. Die Welt der Kleinbürger, schreibt er ohne Ironie, sei »toleranter, liebenswürdiger und aufgeschlossener als die Welt der Aussteiger«. Die Dandys der deutschsprachigen Literatur, die Stuckrad-Barres und Krachts, würden sich mit Houellebecq in einigen Punkten gut verstehen: In der Diagnose der Welt, wie sie ist, gibt es kaum einen Unterschied. Aber während die Dandys zu dieser Welt laut »ja« sagen und sich selbst zur Elite des Individualismus ernennen, sagt Houellebecq ebenso laut »nein«. Sie sind affirmativ, er ist Opposition. Sie verachten das Volk, er hat Sehnsucht nach Gemeinschaft.
Wirtschaftsliberalismus und sexuelle Libertinage sind für Houellebecq zwei Seiten derselben Medaille. Im Supermarkt und im Nachtklub findet, wie er es nennt, eine Selektion statt. Das eine Indiviuum hat Geld, das andere nicht, das eine ist sexuell attraktiv, das andere nicht. Auf dem Markt und bei der Partnersuche kommt es auf das Gleiche an: darauf, begehrenswert zu sein. Das sind aber nicht alle. In traditionellen Gesellschaften gibt es Regeln, Stoßdämpfer, die das schwächere vor den tüchtigsten Exemplaren schützen. Der Kapitalismus aber drängt auf die Beseitigung dieser Regeln, des Sozialstaates, der Familie, des Glaubens. Alles soll weg, zugunsten des allmächtigenMarktes. Der Kapitalismus ist Natur, Recht des Stärkeren, das Gegenteil von Zivilisation.
Die Familie dagegen war eine der letzten Bastionen der Gemeinschaft, etwas, was den Einzelnen vor den Dschungelgesetzen des Marktes schützte. Die 68er haben im Namen des Individualismus die Familie zerschlagen und so den Weg zur Allmacht eines modernen Kapitalismus beschleunigt, der keine moralischen Zwänge mehr kennt und keine Rücksichten. Die Denker der Aufklärung irrten sich, als sie optimistisch annahmen, die Egoismen könnten in einer freien Gesellschaft
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