Romeo für immer, Band 02
»Sie schreien nur. Ihre Schreie klingen nicht menschlich.«
Aus den Augenwinkeln prüfe ich, ob er vor der Verrückten an seiner Seite zurückschreckt. Aber er ist immer noch ganz nah. Viel zu nah. Ich rieche seinen Duft. Hoffnung und Sehnsucht keimen in mir auf. Daran könnte ich mich gewöhnen. Ich würde ihn gern immer an meiner Seite haben, mit ihm über alles reden und mich auf ihn verlassen können. Ihn gernhaben, vielleicht sogar lieben können. Aber den schrecklichen Schmerz, wenn er mich verlässt, weil er merkt, wie gestört ich bin, könnte ich nicht ertragen.
Weil das unerträglich wäre, werde ich ihn jetzt ins Bild setzen, damit er weiß, wie verrückt ich bin. Besser, wir bringen es hinter uns.
»Es kommt in Schüben«, erkläre ich heiser. Ich muss mich dazu zwingen, es auszusprechen. Viel lieber würde ich weiterhin seine kostbare Nähe genießen, nach der ich mich so sehr sehne. »Gestern Abend hatte ich einen Schub. Ich glaubte, auf dem Spielplatz etwas zu sehen. Eine Art Geist … oder so. Kurz bevor die Stimmen kommen, wird mir immer am ganzen Körper kalt. So war es auch gestern Abend, deshalb wusste ich, was passieren würde. Also bin ich schnell weggerannt und habe mich in den Weinbergen versteckt, bevor die Stimmen kamen. Dort bin ich ohnmächtig geworden. Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich im Dreck und … «
Ich schließe die Augen. Ich habe das Gefühl, mich auf der Stelle übergeben zu müssen. Aber ich bin noch nicht fertig. Ich werde ihm jetzt alles erzählen. Anschließend werde ich zur Bushaltestelle gehen und sehen, wie ich nach Hause komme.
»Als ich wieder zu mir kam, hatte ich mir in die Hose gepinkelt. Genau wie damals im vierten Schuljahr. Daran erinnerst du dich bestimmt. Die Geschichte kennt ja jeder.«
Er sagt nichts. Kein Wort. Gar nichts. Er schweigt so lange, dass die Stille immer schwerer wird, bis sie mich fast erdrückt. Ich öffne die Augen und mache mich auf ein höhnisches Grinsen oder spöttische Worte gefasst, die mich noch kleiner zusammenschrumpfen lassen werden, als ich mich ohnehin schon fühle. Aber er sagt keinen Ton; er starrt mich nur an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Irgendwie ungläubig. Oder ängstlich. Es kommt mir vor wie ein schlimmes D é jà-vu.
Ich hatte heute ja schon ein paar D é jà-vus. So schön der Morgen auch war, er war auch irgendwie gespenstisch. Als hätte ich alles schon einmal erlebt. Tief im Innern weiß ich, dass es mit Dylan und mir kein gutes Ende nehmen wird. Deshalb habe ich mich gezwungen, ihm alles zu sagen. Ich weiß , dass etwas passieren wird. Wenn es geschieht, dann besser früher als später.
Ich warte darauf, dass Dylans Miene mir verrät, was er denkt. Aber er schaut genauso unbeweglich wie die Gesichter auf den Bildern. Erstarrt für immer und ewig. Schließlich breche ich das Schweigen. »Du hältst mich jetzt bestimmt für verrückt.«
Er leckt sich die Lippen und weicht zurück. Dann tut er, was ich am wenigsten erwartet hätte. Er nimmt meine Hand und drückt sie. »Ich halte dich nicht für verrückt. Ich … «
»Was?«
»Schreiende Stimmen.« Er spricht die Worte aus, als würde er Stuhl oder Auto oder Donuts sagen, als würde er genau wissen, wovon die Rede ist.
Ich umklammere seine Hand. Die Spannung lässt mein Herz rasen. Was wird er dazu sagen? Wäre es möglich, dass er mich versteht? Niemand hat das bisher verstanden. Ich dachte, es wäre nicht zu verstehen, aber vielleicht … Unsere Blicke treffen sich, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Soll ich mich darüber freuen, dass ich endlich eine verwandte Seele gefunden habe, oder soll ich beweinen, dass hier jemand vor mir steht, dessen Augen noch trauriger sind als meine?
»Ich möchte dir etwas sagen.« Wieder huscht seine Zunge über seine Lippen. »Aber ich … «
»Du kannst es mir ruhig erzählen.« Ich greife nach seiner anderen Hand und wünschte, ich hätte den Mut, ihn zu umarmen. »Ich werde bestimmt nicht schlecht von dir denken.«
Er schüttelt den Kopf. »Oh doch, das wirst du. Du wirst … «
Bevor er den Satz zu Ende sprechen kann, öffnet sich quietschend die Tür und eine ärgerliche Stimme ruft: »Was macht ihr beiden hier? Das ist keine öffentliche Ausstellung.«
Der Mann hat grau meliertes Haar und trägt einen braunen Anzug. Das ist nicht der Museumswächter von vorhin, sondern jemand Wichtiges. Und er ist sehr ärgerlich. Ich lasse Dylans Hände los und weiche zurück. Als
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