Romeo für immer, Band 02
versuchen sollte, die Situation auszureizen und das Beste daraus zu machen. Sie ist gerade so glücklich und offen für eine romantische Geste, ich sollte ihre Hand nehmen und die Enge unseres Versteckes unter ihrem Bett ausnutzen. Doch ich kann nicht. Ich kann nur nicken. »Wann wollen wir los?«, frage ich heiser.
»In einer halben Stunde, vielleicht auch erst in einer. Sobald meine Mutter zur Arbeit gegangen ist.«
Sie dreht sich zu mir, verschränkt ihre Arme vor sich auf dem Boden und bettet ihre Wange darauf. Ich zwinge mich dazu, ihre Blicke zu erwidern, mit ihr zu flüstern und Pläne zu schmieden und so zu tun, als wäre das Gefühl, das zwischen uns aufkeimt, nicht ein einziger großer Schwindel.
8
Ariel
I ch kann es nicht glauben. Nichts von alldem.
Die vergangenen vierzehn Stunden kommen mir vor wie ein Traum. Und es wird immer absurder. Zuerst entdecke ich die Sache mit der Wette, dann stürzen wir beinahe mit dem Auto in die Schlucht, und auf einmal verhält Dylan sich so, als würde er mich mögen. Er tut jedenfalls so. Und jetzt breche ich auch noch aus meinem öden Alltagsleben aus. Ich fasse es nicht.
Ich fasse es nicht, dass ich mich in Dylans Gegenwart sogar ausgezogen habe. Und jetzt flirte ich auch noch mit ihm, als gebe es kein Morgen. Kaum zu glauben, dass ich meine Mutter beschwindelt habe, weil ich die Schule schwänzen will. Zu guter Letzt habe ich auch noch im Schulsekretariat angerufen, mich als die Freundin von Dylans Vater ausgegeben und Dylan für heute entschuldigt, damit er kein Nachsitzen aufgebrummt bekommt. Wir sind frühstücken gegangen und haben uns einen Kaffee und drei altbackene rosa Donuts geteilt. Auf der Fahrt nach Santa Barbara haben wir seine Lieblingssongs gehört und uns über Musik unterhalten. Ich habe noch nie so viel gelächelt wie in der kurzen Zeit mit ihm. Unfassbar.
Hätte ich nicht gestern Abend einen heftigen Schub erlitten und heute Morgen den schlimmen Albtraum gehabt, würde ich glauben, dass ich träume und jeden Moment aufwache.
Aber es ist kein Traum, sondern Wirklichkeit.
Ich bin tatsächlich mit Dylan im Santa Barbara Museum of Art. Er steht hinter mir, schaut mir über die rechte Schulter und betrachtet ein Gemälde von Egon Schiele. Es zeigt einen ausgemergelten Mann mit eingefallenen Wangen, dessen magere Beine vom Bildrand abgeschnitten werden. Dylan steht so nah hinter mir, dass ich den Waschmittelduft seines engen grauen T-Shirts riechen kann und sein Atem bei jedem Wort meinen Nacken streift.
»Das Bild gefällt mir«, sagt er mit gedämpfter Stimme. Als würde er spüren, wie mich dieses Meisterwerk berührt. Wer hätte das gedacht?
Ic h hätte es mir denken können. Als er bei der Probe das Lied für mich gesungen hat, konnte ich mir so etwas durchaus vorstellen. Ich habe angenommen, dass er so fühlt wie ich und Bücher, Musik und Kunst ihn tief berühren, tiefer als das Leben selbst. Vielleicht hatte ich ja recht und sein Verhalten in der Schule dient ihm nur als eine Art Schutzschild, hinter dem er diesen Teil von sich versteckt, weil die anderen ihn nicht verstehen würden. Denn die meisten Menschen sehen die Welt nicht so, wie wir sie sehen.
Wir. Gibt es überhaupt ein Wir? Heute würde ich sagen … vielleicht schon. Ich traue ihm immer noch nicht. Er ist so ganz anders als sonst. Er sieht mich an wie ein Fremder, nicht wie jemand, der mich schon seit der ersten Klasse kennt. Es ist schön, mit ihm zusammen zu sein, aber eine Stimme in meinem Inneren mahnt mich zur Vorsicht. Ich sollte etwas mehr auf Distanz gehen. Doch das ist nicht so leicht. Es berührt mich jedes Mal zutiefst, wenn ich vor einem Kunstwerk stehe. Aber mit Dylan gemeinsam ist es irgendwie … erotisch.
Ich schließe die Augen, mein Gesicht brennt. Dieses Wort habe ich bisher nicht einmal zu denken gewagt. Aber seit Dylan heute Morgen durchs Fenster geklettert ist, fühle ich es. Es ist, als wären all meine Sinne geschärft und hätten sich gegen mich verschworen. Ich nehme jede Einzelheit wahr: das Sonnenlicht im Saal, Dylans warmen, nach Seife duftenden Körper, dessen Geruch sich mit dem der alten Meisterwerke vermischt. Den Duft nach frischem Kaffee, der aus dem Café im Erdgeschoss zu uns heraufschwebt. Die gefühlvollen, ausdrucksstarken Gemälde an den Wänden.
Das alles ist berauschend und sinnlich. Erotisch. Sexy.
Am liebsten würde ich mich umdrehen, die Arme um seinen Hals legen und mich an ihn schmiegen wie gestern Abend. Ich möchte, dass
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