Romeo für immer, Band 02
er mich noch einmal küsst. Ich weiß, dass dieser Kuss heute viel intensiver wäre als gestern. Irgendwie ehrlicher. Vielleicht sogar das ehrlichste Gefühl in meinem Leben.
»Woran denkst du?«, fragt er.
»Das Bild gefällt mir«, antworte ich und drehe ihm mein Gesicht zu. Meine Lippen berühren dabei beinahe seine Wange. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den Atem anhalten oder tief Luft holen soll. Ich weiß nicht, ob ich nachgeben oder zurückschrecken soll.
»Findest du es nicht abstoßend und verstörend?«, hakt er nach und lässt seine dunklen Augen zu meinem Mund wandern. Ich weiß, dass er mich küssen will. Langsam mache ich mir Sorgen um mein Herz. Es schlägt so heftig, dass ich das Gefühl habe, es sprengt jeden Moment meinen Brustkorb.
Ich schüttle den Kopf. »Nein, es ist realistisch. Es ist wunderschön.«
»Du bist wunderschön.«
Ich sehe verlegen zu Boden und lasse meine Haare über die Narben in meinem Gesicht fallen. Ich hatte sie ganz vergessen. Dabei vergesse ich sie sonst nie! Die weite blaue Bluse mit den langen Ärmeln trage ich nur wegen meiner Narben. Dabei wusste ich genau, dass heute ein heißer Tag werden wird. Ich achte immer sorgfältig darauf, die Narben auf meinen Armen zu verbergen und mit meinen Haaren, so gut es geht, mein Gesicht zu verdecken. Ich habe es einen Augenblick lang völlig vergessen und nicht aufgepasst. Unglaublich!
»Bitte nicht.« Dylans Finger streicheln meinen Hals. Mein Atem geht so keuchend, dass ihm klar sein muss, welche Gefühle er in mir weckt. Ich schäme mich und möchte weglaufen, bevor er mich auslacht und zugibt, dass er sich nur einen kleinen Scherz erlaubt hat.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn ich möchte auch stehen bleiben und wünsche mir …
Ich sehe zu ihm auf. Er lacht nicht. »Versteck dich nicht. Du hast keinen Grund dazu.«
»Doch, das habe ich«, flüstere ich. »Die Leute starren mich an.«
»Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass sie dich aus anderen Gründen anstarren?« Seine Finger streicheln meinen Nacken, und ein Schauern durchzieht mich, als würde er meinen ganzen Körper streicheln. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass man dich ansieht, weil du schön bist?«
»Nein.« Ich schlucke, denn seine Lippen kommen jetzt immer näher. »Der Gedanke ist mir noch nie gekommen.«
»Na ja«, murmelt er. »Vielleicht bist du nicht annähernd so klug, wie ich dachte.« Dann küsst er mich. Er streift mit seinen Lippen sanft über meine, federleicht und flüchtig. Bevor ich den Kuss erwidern kann, sind seine Lippen schon wieder weg. Aber das macht nichts. Es fühlt sich an, als würde gleich meine Seele explodieren und mich in tausend kleine Stücke sprengen, von denen jedes einzelne Flügel bekommt und durch den Raum flattert.
»Komm, ich würde mir gern noch mehr ansehen.« Er nimmt meine Hand; ich zögere kurz, dann überlasse ich sie ihm. »Lass uns die Sonderausstellung anschauen.«
»Das geht nicht. Sie wird erst am Wochenende eröffnet.« Ich war gleichzeitig enttäuscht und erleichtert, als ich die Ausstellungsdaten im Eingangsbereich gelesen habe. Ich liebe Schieles Werk, aber viele seiner Bilder sind so … erotisch.
Ich bleibe vor der verschlossenen Tür stehen, obwohl Dylan mich am Ärmel zieht. »Wirklich, die Ausstellung ist noch nicht für den Publikumsverkehr geöffnet.«
»Na und?«
»Wir bekommen Ärger, wenn wir da reingehen. Die Tür könnte alarmgesichert sein.«
»Könnte sie.« Er wirft einen Blick über die Schulter, seine Augen glitzern. »Aber wenn wir sie nicht öffnen, werden wir das nie erfahren.«
In mir rumort es, laut wie ein Motorrad, das beschleunigt. Aufregend und wild. Und viel zu heftig. Genau wie gestern Abend, als wir die Weinflasche stibitzt haben. Wagemut ist zwar aufregend, er kann aber auch sehr gefährlich sein.
»Als wir das letzte Mal etwas Verbotenes getan haben, endete das im Chaos. Ich war anschließend völlig betrunken und hatte einen Filmriss.«
»Oh nein. Das letzte Mal, als wir etwas Verbotenes getan haben, saßen wir im Café, haben rosa Donuts mit Zuckerperlen gegessen und hatten danach eine tolle Autofahrt«, widerspricht er und drängt mich zur Tür. »Wir waren uns doch einig, den Abend zu vergessen, an den ich mich leider nicht mehr erinnern kann, weil er vollständig aus meinem Gedächtnis gelöscht ist.«
Er greift nach dem Türgriff. Mein Herz rast. Ich schaue mich um. Es hängen keine Kameras an der Decke. Beinahe wünschte
Weitere Kostenlose Bücher