Romeo für immer, Band 02
ich mir, der Museumswächter aus dem anderen Saal käme vorbei, um mich von meiner Waghalsigkeit abzuhalten. Aber es ist weit und breit niemand zu sehen. Und als Dylan die Tür öffnet, die zwar quietscht, aber keinen Alarm auslöst, lasse ich mich von ihm in den sanft ausgeleuchteten Saal ziehen.
Leise klirrend fällt die Tür hinter uns ins Schloss und sperrt uns in der Stille des Raumes ein. Wir stehen allein in unserem eigenen, privaten Museum, das wir mit niemandem teilen müssen. Das macht es umso kostbarer.
»Siehst du? Kein Grund zur Sorge.« Dylan hält immer noch meine Hand, während wir zu den ersten Bildern gehen. Sie stammen aus Schieles Anfangszeit und erinnern ein wenig an Gustav Klimt, der Schieles Mentor war. So auch das Bild von der schönen rothaarigen Frau mit dem durchdringenden Blick und einige der stimmungsvollen Landschaften im Dämmerlicht. Ich lasse sie auf mich wirken und tue so, als sei es für mich das Normalste der Welt, mit einem Jungen Händchen zu halten.
»Die sind sehr … schön«, sagt er.
Das klingt so enttäuscht, dass ich laut lachen muss. »Das sind sie wirklich.« Ich ziehe ihn tiefer in den Saal hinein. Die Ausstellung ist chronologisch angeordnet. Schieles düstere Werke kommen erst später. Ich bin immer noch nervös und ängstlich, aber nachdem wir einmal hier sind, bin ich auch aufgeregt. Kunst aus der Nähe zu betrachten, noch dazu in so privater Atmosphäre, ist viel besser, als sie sich in einem Buch anzusehen. »Ich denke, seine späteren Werke werden dir besser gefallen.«
»Wieso denkst du das?«
Ich zucke die Achseln. »Ist nur so eine Vermutung.«
Wir bleiben vor einer Reihe von Frauenporträts stehen. Eine steht mit hochgerafftem Rock da und gewährt einen Blick auf ihre Oberschenkel. Eine andere sitzt mit gespreizten Beinen auf dem Boden, ein Bein hat sie angewinkelt und den Kopf auf ihr Knie gelegt. Es wirkt provokativ und unschuldig zugleich. Das letzte Bild zeigt zwei Frauen, eine ist nackt, die andere trägt ein rotes Kleid. Sie umarmen sich, offensichtlich sind sie ein Liebespaar, doch das Bild strahlt keine Erotik aus, sondern Wehmut. Es wirkt verstohlen und einsam. Ich fühle förmlich den Schmerz, den die Frau im roten Kleid verspürt. Sie hat ohnehin ein schweres Leben, und jetzt ist auch noch ihr Herz in Gefahr. Vielleicht ist es aber auch das letzte Mal, dass sie den Menschen, den sie liebt, in ihren Armen halten darf. Ich atme zitternd ein, Traurigkeit erfüllt mich.
»Mit deiner Vermutung liegst du richtig.« Dylan drückt meine Hand. »Sie erinnern mich übrigens an dich.«
»Wirklich?« Überrascht drehe ich mich zu ihm um. »Wieso?«
»Ich weiß nicht.« Er schiebt sich näher an mich heran. »Wovor fürchtest du dich? Wieso hast du so traurige Augen, meine Schöne?«
Ich will ihn schon anlügen, doch dann kann ich es nicht. Nicht, nachdem er so viel durchgestanden hat, um den Tag mit mir zu verbringen. So etwas hat noch niemand für mich getan.
»Ich habe wohl mehr gesehen, als ich sollte.« Oder gehört und gefühlt . Ich schlucke und versuche, nicht an meinen Wahnsinn und die Schreie zu denken. Ich möchte heute nicht verrückt und eigenartig sein. Ich will glücklich sein, ein ganz normales Mädchen, das mit einem Jungen Händchen hält.
»Es liegt nicht nur an dem Unfall mit dem heißen Öl, als du klein warst, stimmt’s?« Er sieht mich besorgt an, aber keineswegs mitleidig. Ich bin erleichtert. Besorgnis kann ich besser ertragen als Mitleid.
Ich schaue wieder auf die Bilder. »Nein, nicht nur. Es hängt aber, glaube ich, irgendwie zusammen. Das andere ging nach dem Unfall los, als ich noch im Krankenhaus lag.«
»Das andere?«
»Ich habe … Stimmen gehört. Stimmen, die außer mir niemand hören konnte. Die Ärzte dachten, es wäre eine Reaktion auf das Morphium, das sie mir gegen die Schmerzen gegeben haben. Aber die Stimmen sind nicht verschwunden, nachdem sie die Medizin abgesetzt haben.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre auf das Mädchen, das den Kopf aufs Knie gelegt hat. Sie ist höchstens fünfzehn, aber sie hat bereits viel Schlimmes erlebt. Ich sehe es. Sie weiß, wie ich mich fühle, und das gibt mir den Mut weiterzusprechen. »Manchmal höre ich immer noch Stimmen. Wenn ich richtig wütend werde.«
»Was sagen sie?«
»Das weiß ich nicht. Ich kann sie nicht verstehen.« Ich fühle mich unwohl. Aber nachdem ich nun einmal mit der Wahrheit angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören.
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