Romeo für immer, Band 02
eine verlorene Seele könne sich niemandem verständlich machen und habe keine Möglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren. Aber was ist, wenn er sich irrt? Was, wenn …
»Erzählst du es mir jetzt?«
»Vielleicht.« Ich beiße wieder in meine Tortilla und kaue genüsslich. »Aber nur, wenn du mitspielst.«
»Was spielen wir denn?», fragt sie, das erste Mal seit Stunden wieder vorsichtig und misstrauisch.
»Wir spielen ›Sag die Wahrheit‹. Wir erzählen uns abwechselnd Dinge, die wir noch niemandem erzählt haben«, erkläre ich die Regeln des Spiels, das ich gerade erst erfinde. Nichts schweißt Menschen mehr zusammen als ein geteiltes Geheimnis. »Verloren hat derjenige, der als Erster kein Geheimnis mehr zu erzählen hat. Der andere hat gewonnen.«
»Wie sieht mein Gewinn aus?«
Lachend nehme ich die zweite Tortilla aus meiner Schachtel. »Sei dir mal nicht so sicher, dass du gewinnst. Ich habe nämlich eine Menge Geheimnisse, musst du wissen.«
»Okay, dann fang du an«, sagt sie. »Ich habe dir ja schon im Museum ein Geheimnis verraten.«
»Du hast noch nie jemandem von den Schreien erzählt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Niemandem außer meiner Mutter und meinem Therapeuten.«
»Mütter und Therapeuten zählen natürlich nicht.« Ich lecke einen Tropfen Salsa von meinem Daumen und überlege, welches von Dylans Geheimnissen ich ihr erzählen soll. Ich entscheide mich für eines, von dem ich glaube, dass es am besten zur Situation passt. Doch was ich dann sage, überrascht mich selbst. »Ich hatte einen Bruder.«
Ich blinzle verwirrt. Wie ist das denn passiert? Bis heute Morgen habe ich keinen einzigen Gedanken an Nicolo verschwendet seit … Jahrhunderten nicht. Hätte man mein Söldner-Ich gefragt, ob ich Geschwister habe, dann hätte ich wahrscheinlich keine Antwort gewusst. Es wäre mir auch völlig egal gewesen. Aber jetzt … Bei dem Gedanken an meinen kleinen toten Bruder bleibt mir das Essen im Hals stecken.
»Wirklich?«, fragt Ariel. »Das wusste ich nicht.«
Ich lasse mir etwas Zeit, um Dylans Erinnerungen zu prüfen. Ich will sicherstellen, dass meine Geschichte nicht dem widerspricht, was Ariel über Dylan weiß. Nein. Dylans Vater ist erst nach Solvang gezogen, als Dylan in die Schule kam. Und seitdem haben Ariel und Dylan nicht oft miteinander gesprochen. Sie werden kaum irgendwelche Familiengeheimnisse ausgetauscht haben. Ich kann Ariel also ruhig von Nicolo erzählen, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum ich das möchte.
Wahrscheinlich will ich es einfach nur endlich jemandem erzählen. Bevor es zu spät ist. Ich habe noch nie mit jemandem über meinen Bruder gesprochen, auch nicht mit Julia. Als ich sie kennengelernt habe, war Nicolo schon seit zehn Jahren tot. Und ich hatte längst gelernt, so zu tun, als würde ich ihn nicht aufs Schmerzlichste vermissen.
»Wirklich.« Ich starre aufs Meer, weil ich nicht wage, Ariel in die Augen zu sehen, wenn ich ihr die längst vergangene Geschichte erzähle, die plötzlich wie eine frische Wunde schmerzt. »Er war mein Zwillingsbruder und ist mit fünf Jahren gestorben.«
»Das tut mir leid.« Ihre kühle Hand legt sich um meine. »Was ist denn passiert?«
»Er hatte hohes Fieber.« Ich schließe die Augen und sehe ihn wieder vor mir, wie er zum Schluss ausgesehen hat, die Haut gerötet und die Augen glasig. Er kämpfte gegen Ungeheuer, die niemand außer ihm sah. »Das Fieber stieg unaufhörlich. Innerhalb von zwei Tagen war er tot.«
Sie drückt meine Hand. »Wie hieß er denn?«
»Nicolo.« Ich hole zitternd Atem. Es ist wunderbar und schrecklich zugleich, seinen Namen auszusprechen. Wie konnte ich die Erinnerung an ihn nur so lange verdrängen?
»Und wie war er so?«, fragt sie, als würde sie spüren, dass ich gern über ihn reden möchte.
»Er war großartig, der Liebling meines Vaters. Wir beide waren noch klein, aber es war damals schon klar, dass er der liebenswertere von uns beiden war. Nicolo war klug und freundlich, auch dann, wenn niemand hingeschaut hat.« Ich beiße mir auf die Innenseite der Wangen, ich will auf keinen Fall in Tränen ausbrechen. Trauer steht mir nicht zu. »Er hat mir jederzeit seinen Nachtisch überlassen, wenn ich ihn darum gebeten habe. Und ich durfte immer als Erster auf unserem Pony reiten, obwohl das Pony mich gehasst hat. Ich habe Nissi immer viel zu hart meine Fersen in den Bauch gerammt und zu fest an ihrer Mähne gezogen. Nissi hat mich nur Nicolo zuliebe auf seinem Rücken
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