Room 27 - Zur falschen Zeit am falschen Ort
nicht von Familie oder Freunden.
»Laut Valerie ist das nicht das Haus ihres Onkels«, sagt Perez.
Warum hat sie das mir gegenüber dann behauptet? Ich kapiere es nicht.
»Sie sagt, du hättest ihr weisgemacht, das sei das Haus von Martijn.«
»Sie lügt!«
»Warum sollte sie?«, fragt Perez.
Ich weiß es nicht, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Meine Gedanken sind wie Quecksilberkügelchen in der Chemiestunde; sobald ich versuche, einen Finger darauf zu legen, zerfallen sie und schießen davon.
Perez nimmt den gelben Memoblock und reißt ein Blatt ab. »Das Haus gehört dem Ehepaar Limo.«
Ich schnappe nach Luft. Wir haben also tagelang im Haus von völlig Fremden übernachtet und hätten jeden Moment erwischt werden können!
Perez faltet den Kleberand um. »Sie waren im Urlaub in Almeria und hatten keine Ahnung.«
Der Poststapel auf dem Schrank im Flur! Alle Briefe lagen kopfunter da. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keinen Grund, misstrauisch zu werden, aber jetzt… Nix da, von wegen Zufall. Stefano hat es natürlich absichtlich getan. Er wollte nicht, dass ich die Namen der Adressaten lesen würde. Wahrscheinlich hat er auch allerlei Fotos des Ehepaars versteckt. Onkel Raoul war schließlich allein.
Perez faltet immer weiter. Scheint ein Kästchen zu werden.
»Ich wusste das nicht«, sage ich. »Ich dachte wirklich, das sei das Haus von Onkel Raoul. Sonst wäre ich doch nicht mitgegangen?«
Das Döschen ist fertig. Es hat sogar ein Deckelchen, wodurch es mich an einen Sarg erinnert – für eine verstorbene Ameise oder so.
Perez stellt es vor mir ab. »Valeries Onkel lebt schon lange nicht mehr. Raoul Reina starb 2004 bei den Zuganschlägen in Madrid.«
29
Zeit: eine Woche und vier Tage früher
Ort: Santa Pol – Spanien
»Hallo.« Ich setzte mich an den Esstisch.
Val hob ihr Messer zur Begrüßung. Sie saß allein beim Frühstück und war noch in ihrem Schlafshirt. Immerhin war sie so clever gewesen, ihre Cowboystiefel anzuziehen – die Fliesen auf dem Küchenfußboden hatten die Temperatur einer Eisbahn.
»Wo ist Stefano?«, fragte ich, während ich ein Stück Brot mit Marmelade bestrich. Es war nicht mehr so richtig frisch, da wir schon am Tag zuvor eingekauft hatten.
Dieses Mal bewegte sie ihr Messer in horizontaler Richtung. »Weg. Zu irgendeinem Bekannten, der hier in der Gegend wohnt.«
Dies war mein Glückstag!
»Hallo, gleich bleibt dein Löffel stehen«, sagte Val.
Ich schaute auf meine Teetasse. Wie viele Zuckerstücke hatte ich hineingeworfen?
»Zuckerfest«, sagte ich. »Was willst du heute machen?«
»Putzen«, antwortete sie. »Heute Mittag brechen wir auf und ich habe Onkel Raoul versprochen, dass wir das Haus ordentlich hinterlassen.«
Val hatte meinen Verband erneuert. Die Wunde war fast zu, aber sie wollte nicht, dass ich ein Fensterleder in die Hand nahm oder den Boden wischte. »Dann wird deine Haut weich und runzlig und das fördert nicht gerade die Heilung«, sagte sie.
Weich und runzlig mochte sie wohl sowieso nicht, denn sie suchte so lange, bis sie ein Paar Gummihandschuhe gefunden hatte, die ihr fast bis zu den Ellbogen reichten. Val zog die Betten ab und stopfte die Bezüge in die Waschmaschine. Ich wischte Staub und saugte das gesamte Ober- und Untergeschoss und Val verfolgte mich mit einem Eimer Wischwasser, Tuch und Schrubber. Der Fernseher war auf einen Musikkanal eingestellt und wir schmetterten aus voller Brust mit. Gegen zwölf holte Val die Wäsche aus dem Trockner und bezog die Betten frisch. Ich kümmerte mich in der Zwischenzeit um eine Schale mit Leckerbissen.
Zufrieden setzten wir uns in den Whirlpool. Meine Hand ruhte auf dem Beckenrand. Val hatte sie in eine Plastiktüte gepackt, damit der Verband nicht nass wurde. Alle Umstände waren perfekt: eine relaxte Umgebung und Stefano weit von uns entfernt. Dieses Mal würde ich mir meine Chance nicht entgehen lassen.
»Spielchen«, sagte Val. »Augen zu und Mund auf.«
Sie legte etwas auf meine Zunge.
»Und jetzt raten«, sagte sie.
Ich schmeckte. »Parmesan. Lecker.«
Sie applaudierte.
Ich öffnete die Augen. »Jetzt du.«
Angeblich, um besser an die Schale heranzukommen, rutschte ich noch näher zu Val. Sie hatte die Häppchen auf einen Stuhl neben den Whirlpool gestellt. Meine Finger fanden eine sonnengetrocknete Tomate. Ich fütterte Val damit.
»Mhmm. Eine Tomate. Auch lecker.«
Weil sie mich nicht anschaute, traute ich mich mehr als sonst. Ich legte einen Arm um ihren Hals
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