Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
ihr dafür gebührende goldene Medaille nicht zuerkannt, weil ihr Oppositionsgeist
die Direktion gegen sie aufgebracht hatte.« 37 Über einen dieser »Skandale«, der sich zwischen Rosa Luxemburg und dem Lehrer für russische Literatur und Sprache, Afanasjew,
ereignet hatte, berichtete Jadwiga Sikorska: Rosa »schrieb eine sehr gute Übung, wahrlich von einem ungewöhnlich geistigem
Flug der Gedanken. Diese Übung bestand aus drei, wörtlich drei, Versen, während uns das diktierte Schema eine ganze Heftseite
umfaßte! Man muß Afanasjew damals gesehen haben, als er diese Übung laut in der Klasse vorlas, um die kühne und aufsässige
Schülerin zu rügen, die gewagt hatte, selbständig zu denken und damit ihren Mitschülerinnen ein sehr schlechtes Beispiel gab,
und gleichzeitig ihren Lehrer mißachtete. Er brüllte vom Katheder, war wütend. Auf seiner Stirn zeigten sich wie gewöhnlich
grimmige Falten. Er verlor einfach die Fassung! Und das um so mehr, als die Delinquentin sich nicht aus der Fassung bringen
ließ. Sie verteidigte ihre Thesen ganz ruhig, sogar mit einem Lächeln, und antwortete mit treffenden Argumenten, die jedoch
das Gehirn Afanasjews |28| überhaupt nicht erreichten. Wir alle haben dagegen unsere Bewunderung für diese Übung nicht verhehlt.« 38
Im Sommer 1887 hielt Rosa Luxemburg ihr Abschlußzeugnis in der Hand: »Der pädagogische Rat des II. Frauengymnasiums […] stellte
der Schülerin des genannten Gymnasiums, Rosalie Luxenburg, 17 Jahre alt, von mosaischer Konfession, das Attest aus, daß sie
in die 1. Klasse dieses Gymnasiums eingetreten, bis zur vollständigen Beendigung des Schulkursus (7 Klassen) und zwar bis
zum 14. Juni 1887 darin blieb. Sie hat bei ausgezeichnetem Betragen am endgültigen Examen folgende Noten erhalten: Religion
– 5; Russische Sprache – 4; Pädagogik – 5; Polnische Sprache – 5; Deutsche Sprache – 4; Französisch – 4; Arithmetik – 5; Algebra
– 5; Geometrie – 5; Allgem. Geographie – 4; Geographie Rußlands – 5; Naturwissenschaften – 5; Allgem. Geschichte – 5; Russische
Geschichte – 4; Physik – 5; Kosmographie – 5; Kalligraphie – 5; Zeichnen – 5; Weibl. Arbeiten – 5. (5 = ausgezeichnet; 4 =
sehr gut).
Da Rosalie Luxenburg mit sehr guten Leistungen im Allgemeinen den vollständigen Kursus absolviert hat, so hat der pädagogische
Rat bestimmt, ihr dieses, mit den nötigen Stempeln und Unterschriften versehene Attest zu gewähren.« 39
Nach den Erinnerungen von Julian Marchlewski bekam Rosa Luxemburg die goldene Medaille nicht, weil die Vorsteherin des Warschauer
Mädchengymnasiums ihre »politische Zuverlässigkeit« bezweifelte. Rosa Luxemburg gehörte einem Kreis von Gymnasiasten und Studenten
an, in dem »man von der Partei ›Proletariat‹ herausgegebene Broschüren las und von der Tätigkeit unter den Arbeitern schwärmte« 40 . Die Sozialrevolutionäre Partei »Proletariat«, bekannt geworden als »I. Proletariat« oder »Großes Proletariat«, war im Herbst
1882 in Warschau unter Leitung Ludwik Waryńskis gegründet worden. Ihr Programm war marxistisch orientiert; es rief zum Kampf
gegen die Bourgeoisie und den Zarismus auf und ging davon aus, daß dieser Kampf um die Befreiung in engem Bündnis mit der
Arbeiterklasse anderer Länder, insbesondere Rußlands, geführt werden mußte. Die Partei gab in Polen illegal die Zeitschrift
»Proletariat« heraus, in der Schweiz erschienen »Przedświt« (Morgenröte) und »Walka Klas« (Klassenkampf), die ins Land geschmuggelt
und illegal vertrieben wurden. Die Partei wurde |29| durch eine Verhaftungswelle in den Jahren 1883/84 geschwächt und 1886 von den zaristischen Behörden endgültig zerschlagen.
Vier Funktionäre wurden im Januar 1886 auf den Festungswällen der Warschauer Zitadelle gehängt, viele Verhaftete zu langjähriger
Zwangsarbeit oder Verbannung verurteilt, die mancher von ihnen nicht überlebte. Auch Ludwik Waryński wurde 1883 verhaftet
und starb 1889 im Kerker.
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten Jugendliche in fast allen größeren Lehranstalten Warschaus illegale Zirkel,
die gegen die Russifizierung des Schulwesens und andere Repressalien gegen die polnische Bevölkerung opponierten. In diesen
Zirkeln eignete man sich Wissen über die nationale Geschichte an, las verbotene Werke polnischer Dichter und auch sozialistische
Schriften. »Man las zu viel […], und vor allem las man viel zu
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