Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
damals »in zwei ganz scharf geschiedene Teile: die alte Stadt liegt am See, und die Universität mit Studenten-
und Professorenviertel oben am Berge. Und beide haben sehr wenig Gemeinsames. Unten am See wohnt der Züricher Groß- und Kleinhandel,
hält sich der Schweizer Patrizier reich und ablehnend in schönen, alten Häusern; oben am Berg wohnt ein buntes internationales
Völkchen in Mietshäusern, und selbst der Verkehr der Universitätsprofessoren – sofern sie nicht eingesessene Schweizer sind
– geht selten in das untere Zürich hinab, […] in Zürich-Oberstrass wohnt ja in fast jedem Haus ein studierendes Männlein oder
Fräulein, wo nicht gar eine ganze Colonie, und viele der Zimmervermieter hier wie anderswo lassen – solange die Einwohner
nur zahlen und nicht alles auf den Kopf stellen – fünf und sieben und sogar neun gerade sein.« 5
Die Universität und das Polytechnikum waren besondere Anziehungspunkte, weil sie Männern und Frauen unabhängig von ihrer sozialen
Herkunft, ihrer Nationalität, ihrem Heimatland oder ihrer politischen Bindung günstige Ausbildungsmöglichkeiten boten. Hier
lehrten international ausgewiesene Professoren der Natur-, Staats- und Sozialwissenschaften, gediehen in einem liberalen Klima
Innovationen für Kultur, Wirtschaft und Technik.
Am 19. Oktober 1889 schrieb sich Rosa Luxemburg an der Universität zum Studium der Naturwissenschaften ein. Im Wintersemester
1889/90 belegte sie Vorlesungen in Allgemeiner Zoologie und einen zoologisch-mikroskopischen Übungskurs. Sie besaß von klein
auf eine Vorliebe für Pflanzen und Tiere.
Die gerade achtzehnjährige war vielseitig begabt und interessiert und stillte mit Feuereifer ihren ungestümen Bildungsdrang.
Neben einem umfangreichen Allgemeinwissen im Gymnasium hatte sie in der Familie und in illegalen Zirkeln Kenntnisse über die
Geschichte und die Literatur des polnischen Volkes erworben. Besonders liebte sie die Dichtung von Adam Mieckiewcz und die
Musik von Fryderyk Chopin. Sie beherrschte mehrere Sprachen und war mit der Geschichte |35| und Kultur jener Länder vertraut, in denen russisch, deutsch, französisch und englisch gesprochen wurde. Den erhalten gebliebenen
Quellen zufolge schrieb sie perfekt polnisch, russisch und französisch, ihr Deutsch war fast fehlerfrei. Auch der englischen
Sprache war sie mächtig.
Rosa Luxemburg zählte sich mit Witz und Humor zu den kleinen Leuten, wenngleich ihr die etwas unproportionierte Gestalt manchen
Kummer bereitete. Auch engste Freundinnen schilderten sie als klein. Fürs erste falle sie höchstens durch ihre etwas hinkende
Gangart auf, die sie in der Öffentlichkeit krampfhaft zu vermeiden suchte, schrieb Henriette Roland Holst. 6 Sie wäre unscheinbar gewesen, meint Luise Kautsky, »hätten nicht ihre schönen, leuchtenden Augen, das feine Oval des Gesichts,
der schöne Teint und das reiche dunkle Haar sowie hauptsächlich der Ausdruck von Intelligenz sie verschönt« 7 . Sie hatte einen unverhältnismäßig großen Kopf und ein »typisch jüdisches Gesicht mit einer dicken Nase«, bemerkte der jüdische
Sozialistenführer John Mill; »auf den ersten Blick machte sie keinen günstigen Eindruck, aber man brauchte nur kurze Zeit
bei ihr zu sein, da sah man schon, wieviel Leben und Energie in der Frau steckte, wie klug und scharfsinnig sie war, auf welch
hohem geistigen Niveau sie sich bewegte« 8 . Dank ihres Intellekts, ihres Charmes und ihres Temperaments nahm sie fast alle ihre Mitmenschen schlagartig für sich ein.
Rosa Luxemburg dürfte es nicht schwergefallen sein, sich im Kreis der Studenten und Emigranten in Zürich einzuleben. Im Oktober
1889 zog sie in der Nelkenstraße von der Nr. 5 in die Nr. 12, zur Familie Lübeck, wo sie sich schnell heimisch fühlte. Carl
Lübeck war als Redakteur u. a. an Dr. Johann Jacobys »Zukunft« tätig gewesen und dann in die Sozialdemokratie eingetreten.
Er hatte Deutschland 1872 während des Leipziger Hochverratsprozesses gegen die Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
August Bebel und Wilhelm Liebknecht sowie den Redakteur des »Volksstaats« Adolf Hepner verlassen müssen, da er bei seinem
angegriffenen Gesundheitszustand eine Inhaftierung nicht überstanden hätte. In der Schweiz war er als freier Schriftsteller
und Journalist für verschiedene Zeitungen tätig. Durch eine Lähmung an den |36| Rollstuhl gefesselt, fiel es ihm immer schwerer, den Unterhalt für
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