Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
intellektuelle Gruppierungen berauschten sich an lächerlichen Zugeständnissen
auf Forderungen nach Schulen mit polnischer Sprache, nach konfessioneller Toleranz, Provinzialselbstverwaltungen und verlangten
einen »Sejm in Warschau«, ohne sich für eine demokratische Republik im ganzen russischen Reich einzusetzen. In der »Z pola
walki« vom 27. Mai widmete sie unter dem Titel »Das Revolutionsjahr« ihre Aufmerksamkeit dem kämpferischen 1. Mai und dem
Generalstreik am 4. Mai in Warschau zu Ehren der Opfer des Massenmords, den die zaristischen Horden unter den 20 000 friedlichen Maidemonstranten verübt hatten. 6
Wie in Frankreich, Großbritannien, Österreich, Schweden und anderen europäischen Ländern fanden auch im Deutschen Reich Hunderte
Solidaritätskundgebungen statt. Die Sozialdemokratische Partei hatte sie einberufen. Sie waren von Gedanken |219| durchdrungen, die August Bebel in der »Neuen Zeit« wie folgt formulierte: »Das westeuropäische Proletariat wünscht dem russischen
Proletariat den Sieg. Es wird ihm diesen Sieg nicht neiden. Es weiß, daß [das], was das Proletariat eines großen Landes erobert,
dem Proletariat aller anderen Länder zugute kommt. Möglich, daß dieses Mal die Sonne der Freiheit im Osten aufgeht und es
der Westen ist, der, statt zu geben, empfängt.« 7
Anfang April 1905 rief August Bebel in einem offenen Brief die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen in Russisch-Polen und
in Litauen auf, über nationale und religiöse Unterschiede hinwegzusehen und gemeinsam mit der SDKPiL für die »Eroberung politischer
Rechte und politischer Macht« als Voraussetzung für soziale Veränderungen und für »eine freie Volksrepublik im ganzen russischen
Reiche« zu kämpfen. 8 Begeistert teilte Rosa Luxemburg Franz Mehring mit, wie sich August Bebel »für unsere Partei in Russisch-Polen ins Zeug legt«.
Bebels Brief, als Flugblatt in Łódź etc. verbreitet, habe »sehr gewirkt«. 9
Dank der eingehenden Nachrichten vermochte Rosa Luxemburg im »Vorwärts« oder in der »Sächsischen Arbeiter-Zeitung« deutsche
und in der »Neuen Zeit« auch internationale sozialdemokratische Kreise über die Revolution sowie zaristische Gewalttaten konkret
zu informieren. Viele Meldungen und Notizen wurden in der Provinzpresse nachgedruckt, fanden somit eine breite Leserschaft
und trugen zur Steigerung der Solidaritätsbewegung bei.
An manchen Tagen empfand sie allerdings ihre Situation in Berlin, ihre nur indirekte Verbindung zum Revolutionsgeschehen als
unbefriedigend, zumal mitunter die Informationen sehr spärlich flossen. »Wie kann man mich so ohne Nachrichten lassen«, beschwerte
sie sich, »das ist geradezu gewissenlos!« 10
Vom 25. April bis zum 10. Mai 1905 fand in London der III. Parteitag der SDAPR statt, auf dem Strategie und Taktik der Revolution
im Mittelpunkt standen. Wiederum prallten Bolschewiki und Menschewiki mit ihren unterschiedlichen Auffassungen aufeinander.
Lenin verlangte, ihn und die Bolschewiki allein zu respektieren. Er legte seine Auffassungen |220| zu den Parteitagsbeschlüssen in »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution« nieder und stieß in
der II. Internationale auf wenig Verständnis, zumal Plechanow nicht mehr als Vertreter der SDAPR im Internationalen Sozialistischen
Büro fungierte. Rosa Luxemburg echauffierte sich besonders darüber, daß man die SDKPiL nicht zum Parteitag eingeladen hatte,
obwohl sie im Revolutionsgeschehen mit an der Spitze stand. 11
Resultat ihrer Analyse der neuen Situation waren die Studien »In revolutionärer Stunde: Was weiter?«, »Über die Konstituante
und die Provisorische Regierung«, sie erschien 1906 als Broschüre 12 , und ein instruktives Vorwort für die Artikelsammlung »Die polnische Frage und die sozialistische Bewegung« mit Beiträgen
von ihr, Karl Kautsky, Franz Mehring, Parvus u. a. In engem Gedankenaustausch mit Leo Jogiches untersuchte sie darin die internationale
Diskussion zur nationalen Frage der Polen seit 1896. 13
In dem im Mai 1905 veröffentlichten Beitrag »In revolutionärer Stunde: Was weiter?« erläuterte sie Wesen und Ziele der Revolution
und die entsprechende Aufgabenstellung für die Arbeiterklasse: »Die gegenwärtige Revolution in unserem Lande sowie im ganzen
Herrschaftsbereich des Zarismus hat einen Doppelcharakter. Ihren unmittelbaren Zielen nach ist sie eine bürgerliche Revolution.
Es handelt sich um die
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