Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
gesamte
bürgerliche Welt ausgehen. Davon war sie völlig überzeugt. Künstlich sei eine solche Situation nicht zu schaffen gewesen,
nun habe die Sozialdemokratie die Aufgabe, »der Masse nach dem ersten Kampfe aufklärend, anfeuernd, ermutigend beizustehen«.
Sie könne und müsse das, weil sie »ein über alle Einzelmomente hinausführendes Endziel hat«, weil für sie »die politische
Freiheit Mittel zum Zwecke der Emanzipation der Arbeiterklasse« sei. 3 Dabei nach besten Kräften mitzuhelfen, war Rosa Luxemburg fest entschlossen.
Es grämte sie, daß sie ausgerechnet 1905 mehrere Male ernstlich erkrankte. Trotz der häufigen Magen- und Leberbeschwerden, |217| die sich durch nervöse Erschöpfungszustände verstärkten, und einer langwierigen Rippenfellentzündung wollte sie ihren Teil
zu einer erfolgreichen Revolution beitragen. Jakub Fürstenberg (Hanecki) und Feliks Dzierżyński agierten in Warschau, Leo
Jogiches in Krakau. Er hielt die Fäden für sämtliche Publikationen der SDKPiL in Händen. Mit Unterstützung von Adolf Warski,
Julian Marchlewski und dem seit 1903 der polnischen Sozialdemokratie angehörenden jungen Władysław Feinstein (Leder/Witold),
gab er ab 7. Februar 1906 die Zeitschrift »Czerwony Sztandar« heraus. Rosa Luxemburg war für die Kontakte der SDKPiL zur deutschen
Partei und zum Internationalen Sozialistischen Büro zuständig. Die meisten Informationen und Aufträge erteilte ihr Leo Jogiches.
Sie stand aber auch mit polnischen Mitstreitern in Warschau und Łódź, den Zentren der Revolution auf polnischem Gebiet, sowie
den in Berlin, München oder Paris für die Revolution wirkenden polnischen Sozialdemokraten in Verbindung. Für ihre deutschen
Freunde war sie jetzt eine besonders geschätzte Gesprächspartnerin. Mit Kautskys traf sie sich fast jeden Tag.
Rosa Luxemburgs Wohnung in der Cranachstraße 58 in Friedenau bei Berlin wurde zum Anlaufpunkt für viele Revolutionäre, die
aus Polen und Rußland Nachrichten oder Druckvorlagen brachten, Agitationsmaterial, Literatur und konspirative Briefe illegal
beförderten. Politischen Flüchtlingen half Rosa Luxemburg mit Rat und Tat, sie kümmerte sich um Arbeitsstellen oder Unterkünfte
und ließ ihnen, wenn nötig, Gelder aus internationalen Solidaritätsspenden zukommen.
Sie verwaltete die auf einem Berliner Bankkonto deponierten Gelder der SDKPiL und regelte die Finanzierung von Broschüren,
Zeitschriften und Flugblättern. Sehr energisch sorgte Rosa Luxemburg dafür, daß die polnischen Sozialdemokraten ihren Anteil
an den vom Internationalen Sozialistischen Büro an die revolutionären Parteien Rußlands gezahlten Pauschalbeträgen sowie an
den Spenden des deutschen Parteivorstandes erhielten. Sie organisierte selbst Sammlungen unter bekannten Sozialdemokraten
und berichtete Leo Jogiches erfreut von jeder eingegangenen Summe. Alle Gelder wurden gewissenhaft verwahrt, die Ausgaben
exakt in Kassenberichten registriert.
|218| Ihre größere Aufgabe sah Rosa Luxemburg allerdings in der Auswertung des Revolutionsverlaufs, um den Sozialdemokraten im Lande
mit Hinweisen für die Taktik zur Seite stehen zu können. 4 Jakub Hanecki erinnerte sich: »Mehrmals in der Woche schickte sie uns nach Warschau auf illegalem Wege ihre Artikel, Aufrufe,
in denen sie eine Analyse der Revolution vornahm, darauf hinwies, welche Richtung ihr die Partei des Proletariats geben muß,
welche Rolle die Bourgeoisie und besonders die polnische Bourgeoisie tatsächlich in der Revolution spielt.« 5 Sie sah sich durch die Ereignisse in ihren Überzeugungen bestätigt, die sie vor allem gegenüber der polnischen Partei vertreten
hatte. In ihrem Artikel »Politische Abrechnung« für den »Czerwony Sztandar« charakterisierte sie im April 1905 den ersten
Abschnitt der politischen Revolution, in dem auf polnischem Gebiet allein im Januar rund 350 000 Arbeiter streikten, als klassensolidarische Absage an den Sozialpatriotismus der PPS und den Nationalismus intellektueller
Anarchisten. Sturz des Zarismus und der Achtstundentag seien die zentralen Losungen gewesen, nicht aber die Wiederherstellung
eines polnischen Staates. In der gleichen Zeitung prangerte sie am 26. Mai im Artikel »Die beiden Lager« das Bündnis des bürgerlichen
Polen mit dem »verreckenden Absolutismus« an: Adel, Bourgeoisie und Kleinbürgertum hüllten sich mehrheitlich in Schweigen.
Die sogenannte Nationale Demokratie und andere
Weitere Kostenlose Bücher