Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
aus, daß »die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine
bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht« wird, indem sie sich nach links abgrenzt, während die Tore nach rechts sehr
weit offen gelassen werden. Dem altbewährten Prinzip habe man treu zu bleiben: »Wegen Ansichten wird bei uns niemand ausgeschlossen.«
Außerdem sollte nicht vergessen werden, daß der Opportunismus »der eigentliche Nährvater der anarchistischen Seitensprünge«
sei, und deshalb müsse in erster Linie gegen ihn Front gemacht werden. 125
Obwohl sich Rosa Luxemburg während des Parteitages krank fühlte und ihre Kräfte zu schwinden begannen, ließ sie sich für eine
Großkundgebung am 25. September im Nibelungensaal des Rosengartens gewinnen, auf der sie von ihren Erfahrungen in Rußland
berichten sollte. Außer ihr sprachen Adolf Geck zur Zoll-, Steuer- und Teuerungspolitik und Georg Ledebour gegen die Kolonialpolitik.
Die vieltausendköpfige dichtgedrängte Menge – Hunderte mußten wegen Überfüllung umkehren – dankte ihr mit stürmischem Beifall.
Rosa Luxemburg begann mit einem Protest gegen ihren Vorredner, der sie eine Märtyrerin |264| und Dulderin genannt hatte. Sie könne ohne Übertreibung versichern, daß die Monate, die sie in Rußland zubrachte, die glücklichsten
ihres Lebens gewesen seien. Viele würden sich infolge sensationslüsterner Telegramme bürgerlicher Telegraphenagenturen ein
völlig falsches Bild von der Revolution machen, die ein Volk nach jahrhundertelanger Duldung furchtbarer Leiden durchführe.
Wenn die russische Revolution auch ein Nachzügler sei im Vergleich zur Märzrevolution 1848 in Deutschland und zur Großen Französischen
Revolution 1789, so finde sie dennoch unter anderen Vorzeichen und anderen Klassenverhältnissen statt. »Das russische Proletariat
gibt sich nicht den Illusionen des Proletariats von 1848 hin, es weiß ganz gut, daß die Einführung der Herrschaft des Sozialismus
von heute auf morgen eine Unmöglichkeit ist, es weiß, daß nichts anderes als ein bürgerlicher Rechtsstaat zustande kommen
kann.« 126 Es werde lernen, die bürgerlichen Freiheiten als Kampfmittel gegen die Bourgeoisie zu nutzen. Daher seien weniger die im
Vordergrund stehenden Persönlichkeiten als vielmehr das Heldentum der großen Masse, die ungeheure Opfer bringt, zu bewundern.
Auch die deutschen Sozialdemokraten sollten sich auf Kämpfe vorbereiten, in denen die Massen den Ausschlag geben. Dafür sei
die russische Revolution ein Lehrmeister.
Nach Berlin zurückgekehrt, nahm sie sich erst einmal Zeit zum Erholen, genoß amüsante Plaudereien mit Luise und Hans Kautsky,
dem viel lebenslustigeren der Brüder Kautsky, und Begegnungen mit Parvus, dem unternehmungsfreudigen »Dicken«. Doch gleich
galt es wieder, ein Vorwort für eine russische Ausgabe ihrer Schrift »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« aufzusetzen,
die 1906 in Kiew erschien.
Noch immer hatte sich Rosa Luxemburgs Gesundheitszustand nicht stabilisiert. Daher verließ sie Berlin, wo sie ständig besucht
und bedrängt wurde, und fuhr am 24. November zusammen mit Luise Kautsky nach Maderno am Gardasee zur Erholung. Sie waren beide
dank Hans Kautskys Empfehlung in der abseits vom Dorf und direkt am See gelegenen Pension Liquet sehr gut untergebracht. Von
dieser Ruhe und Schönheit könne man sich keinen Begriff machen, schrieb sie an Kostja Zetkin, der sich während ihrer Abwesenheit
in ihrer Berliner Wohnung aufhielt. Bei warmer und milder Luft gingen sie |265| spazieren, faulenzten nach Herzenslust und genossen, wie das Plätschern des Wassers, das »eintönige Geschwätz der Woge«, ihnen
ganz die Sinne nahm. 127 Es war dies der erste Brief an Clara Zetkins jüngeren Sohn und der einzige, in dem sie ihn mit »Sie« ansprach. Rosa Luxemburg
kannte Kostja seit seinem 13./14. Lebensjahr. Ende des Jahres 1906 begann sich zu ihm ein Liebesverhältnis anzubahnen.
Minna und Hans Kautsky erhielten Post von einer – wohl auch deshalb – ausgelassenen, frohgelaunten Rosa Luxemburg, die »Sonne,
Ruhe und Freiheit« als die schönsten Dinge im Leben schätzte. 128 Die Welt sei so schön, schwärmte sie. »Rosen, Lorbeeren, Geißblatt, Heliotropbäume blühen massenhaft im Freien, ringsherum
auf den Bergen Olivenwälder und Zypressengruppen.« 129 Dem zwölfjährigen Benedikt, einem Sohn von Karl und Luise, beschrieb sie, wie die Frauen die Wäsche am Seeufer wuschen und
trockneten,
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