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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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Jerxheim … Bahnsteig III! Dabei rollt er seine hervorstehenden Augen in dem unbeweglichen
     Kopfe, wie wenn er ein Verdammungsurteil über sämtliche anwesende Sünder sprechen würde. Er hat recht, mir kommen alle diese
     schrecklichen Stationsnamen wie ebenso viele Leidensstationen des menschlichen Lebens vor … Wozu gibt es überhaupt so viele
     Städte in der Welt, weißt Du es mir nicht zu erklären, mein Sohn? An meinen Tisch hat sich noch zu allem Überfluß eine glückliche
     Familie mit zwei blühenden Sprossen von vier bis fünf Jahren hingesetzt; wieviel Sorge um die Nasen, um die vergossene Milch,
     um die schiefgerutschten Mützen und das sonstige Wohlergehen der lieben Jungen! Wozu die Menschen bloß soviel Kinder in die
     Welt setzen, weißt Du es mir nicht zu sagen, mein Sohn? Am anderen Ende des Saales sitzt ein Pfaff’ am Tisch, und ich muß
     unwillkürlich sein rundes geschlechtsloses Gesicht betrachten. Ist das nicht bloß ein Hirngespinst meiner kranken Seele, gibt
     es wirklich eine solche Menschengattung, die sich unter anderm einbildet, einem Gott zu dienen, sich ihm zu liebe zu kastrieren,
     die ein kleines Büchlein mit Goldrand in den dicken Fingern hält und etwas Lächerliches murmelt wie dieser Pfaff’ da am anderen
     Ende des Wartesaals? Was geht mich übrigens das alles an? […] Ich weiß auch nicht, wozu ich Dir dies alles schreibe. Doch!
     Jetzt weiß ich: Ich wollte Dir eigentlich nur schreiben, daß ich am Sonntag vergaß, Dir frische Handtücher zu geben; laß Dir |270| also von Helene [seit 1906 Rosas Hausgehilfin] sofort welche geben aus meinem Schrank, sonst habe ich kein ruhiges Gewissen
     und gutes Gewissen; Du weißt es, das ist der Hauptgrund der menschlichen Glückseligkeit. Nicht wahr, mein Sohn?« 139
    Da Kostja Zetkin noch ziemlich ratlos nach einer beruflichen Entwicklungsrichtung suchte, empfahl ihm Rosa Luxemburg während
     seines Berlinaufenthaltes im Frühjahr 1907 das Studium der Nationalökonomie als Grundlagenbildung. Als er wieder nach Stuttgart
     abgefahren war, informierte sie ihn über jedes Zusammentreffen mit Hans Kautsky oder Parvus und schilderte ihm Eindrücke von
     jetzt häufig stattfindenden Theater- und Konzertbesuchen. Nach der Lektüre von Maxim Gorkis »Die Mutter« lästerte sie: ein
     Tendenz- und »Agitationsroman« grellster Sorte. Gorki, von dem sich seine Freunde eine ganze »Revolution in der Kunst« versprächen,
     sei offenbar schon der Faden der »Lumpen«kunst ausgegangen. 140
    Wie nicht anders erwartet, lehnte das Reichsgericht am 12. April 1907 die von der Verteidigung eingelegte Berufung gegen das
     Weimarer Urteil vom Dezember 1906 ab. Rosa Luxemburg erfuhr allerdings noch nicht, wann sie die Haft antreten mußte. Das beunruhigte
     sie umso mehr, als sie zum russischen Parteitag fahren wollte, der vom 13. Mai bis zum 1. Juni 1907 in London stattfinden
     sollte. Trotz dieser Unsicherheit trat sie ihre Reise über Vlissingen in den Niederlanden und Queensborough am 12. Mai an.
     Auch Leo Jogiches sollte an dem Parteitag teilnehmen; da Rosa Luxemburg ihm jedoch bereits mitgeteilt hatte, daß sie sich
     von ihm trennen wollte, fuhren sie nicht gemeinsam.
    Bei ihrer Ankunft kam sie sich unendlich verloren vor, obgleich sie London kannte: »In schrecklicher Stimmung fuhr ich die
     unendlichen Stationen der dunklen Metro durch und stieg gedrückt und verloren in dem wildfremden Stadtteil [Whitechapel] aus.
     Dunkel und schmutzig ist es hier, das trübe Laternenlicht flackert und spiegelt sich in den Pfützen und Lachen (es regnete
     den ganzen Tag), in der Dunkelheit leuchten rechts und links gespenstisch die bunten Restaurants und Bars auf, Banden von
     Betrunkenen torkeln mit wildem Lärmen und Schreien mitten durch die Straße, Zeitungsboys brüllen, Blumenmädchen |271| von fürchterlicher, lasterhafter Häßlichkeit, wie wenn sie Pascin gezeichnet hätte, kreischen an den Ecken, unzählige Omnibusse
     knarren und [Kutscher] knallen mit den Peitschen. Es ist ein wildes Chaos und alles so wildfremd, ich konnte das verdammte
     Hotel lange nicht finden, und mein Herz schnürte sich schmerzlich zusammen.« 141 Ihre Zerrissenheit spiegelt wohl eine Vorahnung der Konflikte im Verhältnis zu dem jungen Intimus Kostja Zetkin und ihrem
     langjährigen Lebensgefährten Leo Jogiches.
    Am 16. Mai 1907 hieß Lenin als Vorsitzender der 8. Sitzung des Parteitages Rosa Luxemburg unter dem anhaltenden Beifall der
     Delegierten als Vertreterin

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