Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
|322| ihre Depression, begann auch wieder zu malen und zeichnen. Mit dem Ergebnis überraschte sie Kostja. »Ich bin sehr froh, daß
Dir meine Skizze gefällt, sie war Dir zugedacht, gleich wie ich sie machte«, schrieb sie ihm am 5. Oktober 1909. »Du brauchst
nicht zu denken, die Energie sei bei mir fort, ich habe gerade die schmerzliche Stimmung überwunden, in der ich sie zeichnete;
nachdem die Skizze gemacht war, habe ich mich wieder gefunden. Alles Kleine und Schwache ging aus meinem Herzen fort, und
da konnte ich Dir die Skizze schicken, damit Du weißt: Jetzt kannst Du auf mich zählen; was auch geschieht, mich schreckt
nichts mehr, und nichts wird mich mehr wankend machen. Ich möchte Dich nur fröhlich und glücklich wissen – um jeden Preis.
Armer kleiner Bub, Deine Krankheit erkläre ich mir so: Du brauchst Glück, wie eine Blume Sonnenschein braucht, hast es nicht
oder weißt nicht, es zu erhaschen, und leidest mit jedem Nerv. Gott geb, daß Du es findest.« 257
Ich arbeite wie besessen … Es geht famos
Immer wieder hatte sich Rosa Luxemburg in den vergangenen Monaten mit ihren Vorlesungen zur »Einführung in die Nationalökonomie«
beschäftigt, die sie für den Druck bei Bernhard Bruns in der »Vorwärts«-Buchhandlung vorbereitete. Von überallher – aus Zürich,
Genua, Levanto, Gersau, Quarten – hatte sie über den Fortgang ihrer ökonomischen Studien berichtet, Bücher und Kritiken bestellt
und versucht, im voraus Übersetzungen ins Russische und Polnische zu organisieren. Zum Teil mehrbändige Werke von weit mehr
als 50 Autoren hatte sie gelesen, exzerpiert und kritisch verarbeitet. Ihr Quellenstudium erstreckte sich auf Klassiker des
Altertums, auf die Koryphäen der bürgerlichen Nationalökonomie, auf sämtliche sozialistische Theoretiker von den frühen utopischen
Sozialisten bis zu Marx, Engels und den auf diesem Gebiet ausgewiesenen Sozialdemokraten, auf repräsentative Soziologen, Ethnographen
und Kulturhistoriker.
Auf ca. 30 Bogen à 16 Seiten war das Manuskript angewachsen. Auch wenn sie in den folgenden Jahren, besonders während des
Krieges, noch Ergänzungen und Änderungen vornahm, |323| hatte es damals inhaltlich vermutlich doch weitgehend schon die Gestalt, in der es nach ihrem Tode veröffentlicht wurde.
1909/10 wollte Rosa Luxemburg die »Einführung in die Nationalökonomie« in acht Broschüren und als Buch herausgeben. Alexander
Bogdanow-Malinowski, der in seinem 1897 erschienen »Kurzen Lehrgang der ökonomischen Wissenschaft« ähnlich wie sie Erfahrungen
aus Vorlesungen in Zirkeln verwertet hatte, beruhigte sie, dennoch ganz anders herangegangen zu sein. 258 Über Julian Borchardts »Leitsätze zur Einführung in die Nationalökonomie« und Hermann Dunckers »Leitfaden für Unterrichtskurse
zu volkswirtschaftlichen Grundbegriffen« fühlte sie sich erhaben. Duncker sagte sie offen ins Gesicht, sie halte sein Buch
für verfehlt. 259 Und der »Mist von Bernstein« sei ein so »nichtiger, banaler, wässeriger Dreck, daß er sich nicht einmal zu einer Polemik
eignet« 260 . Doch obwohl sie die Nationalökonomie als ihre Domäne in der sozialdemokratischen Literatur betrachtete und sich nur mit
bürgerlichen Größen raufen wollte, peinigten sie Zweifel, als sie den ersten Teil der Arbeit an den Verlag absenden wollte.
Schließlich hielt sie im Februar 1910 zwei der Broschüren für druckfertig. Die übrigen müßten bearbeitet und erweitert werden,
sollten aber bis Juni fertig sein und dann nacheinander erscheinen. 261
Die »Einführung in die Nationalökonomie« trägt Lehrbuchcharakter und enthält eine sehr ausführliche Kritik der Literatur zum
Thema. Sie habe sie mit einem »Maximum an Popularität geschrieben, für die breiten Massen der intelligenten Arbeiter« 262 . Lehren, Schreiben und Redigieren gingen zu dieser Zeit fast ineinander über. Der Stil verrate gar, merkte Paul Levi in der
Erstveröffentlichung des Buches 1925 an, »daß es niedergeschriebene Rede ist, die hier festgehalten wurde« 263 .
Zuweilen beklagte Rosa Luxemburg, ihr fehle der erste kritische Leser. »Es wäre mir sehr wertvoll«, schrieb sie an Kostja
Zetkin, »wenn Du meine Arbeit vor dem Druck lesen könntest, weil ich an ihr ganz irre geworden bin und niemanden hier habe,
dessen Urteil ich trauen kann.« 264 Notfalls könne sie die Texte Karl Kautsky zeigen, doch der habe für Form und Gestaltung keinen Sinn. Zumindest bei der
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