Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Korrektur
wollte sie Kostja |324| Zetkin zu Rate ziehen. Seinen Vorwurf, sie »sei kriegerisch, und das würde vielleicht die Popularität der Schrift stören«,
wies sie zurück: »Aber Liebchen, gerade umgekehrt«. Die Polemik diene ihr zur Belebung der trockenen Materie, bringe Temperament
in die Sache. Bei allen, die sie kritisch unter die Lupe nehme, entdecke sie »Mängel an nationalökonomischer Bildung, die
ein Leitfaden für die Wirtschaftsgeschichte« sei. Kostja selbst habe ja vielfach gefühlt, »daß man die Wirtschaftsgeschichte
ohne Nationalökonomie nicht verstehen kann. Und das fehlt ja gerade den meisten Gelehrten, ebenso einen von Steinen wie dem
Eduard Meyer.« 265
Rosa Luxemburg betrachtete ihre Darlegungen als eine wesentliche Grundlage für künftige Arbeiten zu einer Wirtschafts- und
Kolonialgeschichte und über die Kartelle. Die Untertitel der Broschüren zeigen an, welche Schwerpunkte sie setzte: 1. Was
ist Nationalökonomie? 2. Die gesellschaftliche Arbeit. 3. Wirtschaftsgeschichtliches (Urkommunismus, Sklavenwirtschaft, Fronwirtschaft,
Zunfthandwerk). 4. Der Austausch. 5. Lohnarbeit. 6. Herrschaft des Kapitals (Profitrate). 7. Krisen. 8. Tendenzen der kapitalistischen
Wirtschaft.
Die Abschnitte über die Durchschnittsprofitrate und die Krisen fehlen in der Handschrift: zahlreiche Randnotizen und die uneinheitliche
Numerierung der Kapitel unterstreichen das Fragmentarische. Wohl auch deshalb erfuhr diese Arbeit in vielen biographischen
und analytischen Texten über Rosa Luxemburg eine gewisse Geringschätzung. Das Werk sei nicht vollständig, schrieb Paul Levi.
»Es fehlen namentlich die theoretischen Teile über Wert, Mehrwert, Profit usw., d. h. das, was im ›Kapital‹ von Karl Marx
über die Funktion des kapitalistischen Systems dargetan ist. Es läßt sich aus dem Nachlaß nicht feststellen, worauf diese
Lücken beruhen: ob darauf, daß der jähe Abschluß ihres Lebens die Verfasserin verhindert hat, das, was sie beabsichtigte,
zu Ende zu bringen, ob darauf, daß die ›Ordnung‹ hütenden Banditen, die in ihre Wohnung eindrangen, neben anderen auch die
fehlenden Manuskriptteile gestohlen haben: mehr Freunde vom Stehlen als Freunde vom Gestohlenen.« Sicher sei, daß sie das
vorliegende Manuskript nicht als fertig betrachtet hatte. 266
Worauf basiert die kapitalistische Wirtschaft, »die angesichts |325| ihrer völligen Planlosigkeit, angesichts des Fehlens jeder bewußten Organisation auf den ersten Blick ein Ding der Unmöglichkeit,
ein unentwirrbares Rätsel ist, sich trotzdem zu einem Ganzen fügt und existieren kann« 267 ? Und wohin tendiert deren Entwicklung? Das war die Hauptfrage Rosa Luxemburgs. Ihre Antworten berücksichtigen viele widersprüchliche
Tendenzen, räumten Fortschritt und Stillstand und auch Rückschlag ein. Noch könne die kapitalistische Wirtschaft sich ausdehnen,
anpassen und die Entwicklung der Produktivität der menschlichen Arbeit als Grundlage des ganzen Kulturfortschritts sichern.
Rosa Luxemburg erklärte das u. a. wie folgt: Die kapitalistische Wirtschaft existiere erstens »durch den Warenaustausch und
die Geldwirtschaft, womit sie alle Einzelproduzenten wie die entlegensten Gebiete der Erde miteinander wirtschaftlich verbindet
und so die Arbeitsteilung in der ganzen Welt durchsetzt«; zweitens »durch die freie Konkurrenz, die den technischen Fortschritt
sichert und zugleich die kleinen Produzenten beständig in Proletarier verwandelt, womit dem Kapital die käufliche Arbeitskraft
zugeführt wird«; drittens »durch das kapitalistische Lohngesetz, das einerseits mechanisch dafür sorgt, daß die Lohnarbeiter
sich nie aus dem Proletarierstand erheben und der Arbeit unter dem Kommando des Kapitals entrinnen, andererseits eine immer
größere Anhäufung der unbezahlten Arbeit zu Kapital und damit immer größere Ansammlung und Ausdehnung der Produktionsmittel
ermöglicht«; viertens »durch die industrielle Reservearmee, die der kapitalistischen Produktion jede Ausdehnungs- und Anpassungsfähigkeit
an die Bedürfnisse der Gesellschaft gestattet«; fünftens »durch die Ausgleichung der Profitrate, die die ständige Bewegung
des Kapitals aus einem Produktionszweig in einen anderen bedingt und so das Gleichgewicht der Arbeitsteilung reguliert«; endlich
sechstens »durch die Preisschwankungen und Krisen, die teils täglich, teils periodisch einen Ausgleich zwischen der blinden
und
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