Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
chaotischen Produktion und den Bedürfnissen der Gesellschaft herbeiführen«. 268
Nicht minder interessierten Rosa Luxemburg Faktoren, die die kapitalistische Wirtschaft ruinieren würden. Dehne sich der Kapitalismus
infolge des Welthandels, der zunehmenden |326| internationalen Arbeitsteilung und der Kolonialeroberungen auf die ganze Erdkugel aus, führe dies zur Verdrängung jeder anderen,
älteren Gesellschaftsordnung und zur Verbindung sämtlicher Länder »zu einer einzigen großen kapitalistischen Weltwirtschaft« 269 . Deren Kehrseite sei die fortschreitende Verelendung immer weiterer Kreise der Menschheit. Das grausame Schicksal ganzer
Völkerschaften in Brasilien, Indien, China, im Innern Afrikas und in den Vereinigten Staaten von Amerika zeige das Ausmaß
der wachsenden Existenzunsicherheit.
Daß Rosa Luxemburg Entwicklungen im Vorderen Orient, in Südasien, Nordafrika, Südamerika, Australien einbezog, gehört zu den
Vorzügen ihrer Untersuchung. Dieser außereuropäische Blickwinkel hat im 20. Jahrhundert wachsendes Interesse gefunden.
Noch heute bestätigen Millionen perspektivloser Menschenschicksale, Wirtschaftschaos und Strukturkrisen ihre Charakteristik
des Handels mit Finanzkapital. Die Ware Kapital diene nicht dazu, »gewisse Lücken« fremder »Volkswirtschaften« auszufüllen,
»sondern umgekehrt dazu, Lücken zu schaffen, Risse und Spalten im Gemäuer altertümlicher ›Volkswirtschaften‹ zu öffnen, in
sie einzudringen und, wie Sprengpulver wirkend, über kurz oder lang jene ›Volkswirtschaften‹ in Trümmerhaufen zu verwandeln.
Mit der ›Ware‹ Kapital werden so noch merkwürdigere ›Waren‹ immer massenhafter aus einigen alten Ländern nach der ganzen Welt
getragen: moderne Verkehrsmittel und Ausrottung ganzer eingeborener Völkerschaften, Geldwirtschaft und Verschuldung des Bauerntums,
Reichtum und Armut, Proletariat und Ausbeutung, Unsicherheit der Existenz und Krisen, Anarchie und Revolutionen. Die europäischen
›Volkswirtschaften‹ strecken ihre Polypenarme nach sämtlichen Ländern und Völkern der Erde aus, um sie in einem großen Netz
der kapitalistischen Ausbeutung zu erwürgen.« 270
Die Beherrschung aller Länder und Menschen durch den Kapitalismus bezeichnete Rosa Luxemburg als eine gesetzmäßige Tendenz,
die seinen Untergang bedinge. Sie fixierte dafür jedoch keinen zeitlichen Rahmen. Nach Abwägen aller Faktoren kam sie zu der
Feststellung, ein Endpunkt der kapitalistischen Entwicklung sei wohl theoretisch, aber nicht historischkonkret |327| abzusehen. 271 Rosa Luxemburg den Verfechtern einer wirklichkeitsfremden »Zusammenbruchstheorie« zuzuordnen, widerspricht nicht nur ihren
ökonomischen und historischen Ansichten in der »Einführung zur Nationalökonomie«, sondern auch dem Gesamtanliegen ihrer Theorie
und ihres Wirkens.
Der sich teilweise verselbständigende weltgeschichtliche Exkurs in dieser Arbeit belegt, welchen Wert sie dem historischen
Herangehen an Entwicklungsprozesse von Wirtschaftsstrukturen beimaß. »Nur wer sich über die spezifischen ökonomischen Eigentümlichkeiten
der urkommunistischen Gesellschaft, aber nicht minder über die Besonderheiten der antiken Sklavenwirtschaft und der mittelalterlichen
Fronwirtschaft klare Rechenschaft ablegt, kann mit voller Gründlichkeit erfassen, warum die heutige kapitalistische Klassengesellschaft
zum erstenmal geschichtliche Handhaben zur Verwirklichung des Sozialismus bietet und worin der fundamentale Unterschied der
sozialistischen Weltwirtschaft der Zukunft von den primitiven kommunistischen Gruppen der Urzeit besteht.« 272
Durch ausführliche Betrachtungen über die germanische Markgenossenschaft, den Dorfkommunismus in Rußland, die Bauerngemeinde
in Indien, das Geschlechtereigentum an Grund und Boden viehzüchtender Nomaden in Afrika, über den altperuanischen Agrarkommunismus,
Lebensbedingungen und -gewohnheiten der amerikanischen, australischen und afrikanischen Alteinwohner u.v.a.m. suchte Rosa
Luxemburg das historische Verständnis für Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufen
zu wecken. Paul Levi bezeichnete die Arbeit zu Recht als »die erste Skizze einer umfassenden marxistischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte« 273 .
Mit der »Einführung in die Nationalökonomie« wollte Rosa Luxemburg die historische Notwendigkeit der Ablösung des Kapitalismus
durch eine neue, gerechtere
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