Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
polnischen Aufstandes
von 1831 auf dem internationalen Meeting in Genf erklärt hatte: »›Wir treten hier auf nicht als Kämpfer für den künftigen
polnischen Staat, sondern als Vertreter und Verteidiger des polnischen Proletariats … Uns sind gleichgültig diese oder andere
Grenzen des polnischen Staates – das Ideal unserer Patrioten. Unser Vaterland, das ist die ganze Welt. Wir sind Mitglieder
einer großen Nation, derjenigen Nation, die unglücklicher ist als die polnische – der Nation des Proletariats!‹« 58
Im Gegensatz dazu orientierte die sozialpatriotisch gesinnte Führungsgruppe der PPS um Mendelson und Jodko-Narkiewicz im Frühjahr
1896 in einem Resolutionsentwurf für den internationalen Kongreß ausschließlich auf die nationale Wiedergeburt Polens, und
sie stieß damit in der II. Internationale auf Verständnis. Um weiteren Irritationen entgegenzuwirken, wollte Rosa Luxemburg
auf internationaler Ebene eine grundsätzlichere Polemik führen. Anfang März wandte sie sich deshalb an Karl Kautsky, den Chefredakteur
der theoretischen Zeitschrift »Die Neue Zeit«, und schickte ihm den Aufsatz |60| »Neue Strömungen in der polnischen sozialistischen Bewegung in Deutschland und Österreich«. Eindringlich argumentierte sie
in ihrem ersten Brief an ihn: Die Bedeutung des Themas reiche »weit über die Grenzen der polnischen Bewegung selbst hinaus,
da sich – auch abgesehen von der unmittelbaren Bedeutung der polnischen Bewegung für die deutschen und österreichischen Genossen
– die ganze nationalistische Bewegung unter den polnischen Sozialisten hauptsächlich durch die Sympathien der deutschen Sozialdemokratie
einen marxistischen Schein zu geben sucht und andererseits durch ein spezielles Blatt ›Bulletin officiel du parti socialiste
polonais‹, herausgegeben in London, die Sympathien der Sozialisten in Westeuropa gewinnen will.« 59
Kautsky druckte sowohl diesen als auch einen zweiten Artikel von ihr, »Der Sozialpatriotismus in Polen«, ab. 60 »Critica Sociale« veröffentlichte am 16. Juli 1896 ihre Polemik »Die polnische Frage und der internationale Kongreß in London«.
Diese Publikationen waren ein erstaunlicher Vorstoß in das theoretische Forum der Internationale. Wie das Echo ausfallen und
wie sie es verkraften würde, war ungewiß. Denn erneut begründete sie unumwunden ihren Standpunkt zur Forderung nach nationaler
Wiedergeburt des polnischen Staates: »Würde das Proletariat die Unabhängigkeit Polens zu seinem Programm machen, so würde
es sich dem ökonomischen Entwicklungsprozeß entgegenstemmen. Derselbe würde ihm dann nicht zur Verwirklichung dieser Aufgabe
wie aller seiner Klassenaufgaben verhelfen, sondern, umgekehrt, zwischen ihm und dem Ziel seiner Bestrebungen eine immer größere
Entfernung schaffen. Sein endgültiges Ziel, den Sozialismus, das Ergebnis der sozialen Entwicklung, würde es im Rücken haben,
und will es das Gesicht diesem Ziel zuwenden, so muß es der Wiederherstellung Polens den Rücken kehren. Von der ökonomischen
Entwicklung in Polen haben die nationalen Bestrebungen nichts zu erwarten, höchstens der Stillstand oder, genauer, der Rückgang
könnte ihnen wieder einen Nährboden schaffen. Schon daraus ist ersichtlich, daß dies nicht das Programm des Proletariats,
sondern dem sozialen Charakter nach nur ein typisches Programm des reaktionären Kleinbürgertums sein kann. Nimmt daher das
Proletariat dieses Programm an, so wird es |61| nicht – wie andere meinen – die kleinbürgerlichen Krethi und Plethi um sich gruppieren, sondern umgekehrt, so gering und schwach
diese Elemente auch sind, tatsächlich auf ihren Boden hinübertreten.
Wir haben nicht genügend Raum, alle Folgen aus der obigen Skizze zu ziehen. Die wichtigsten sind jedoch:
1. Die nationalen Bestrebungen in Polen können, abgesehen von ihrer Aussichtslosigkeit, keine ernste Bewegung im Lande selbst
schaffen, und daher kann ihnen auch keine irgendwie bedeutende Rolle in der Politik des internationalen Proletariats zugewiesen
werden.
2. Die positiven Aufgaben des polnischen Proletariats gestalten sich ganz analog denjenigen der Sozialdemokratie in allen
anderen Ländern: als die Demokratisierung der gegebenen staatlichen Einrichtungen. Indem Polen und Rußland zu
einem
kapitalistischen Mechanismus werden, wird das polnische und russische Proletariat zu
einer
Arbeiterklasse, und als ihre nächste gemeinsame Aufgabe ergibt sich
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