Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
und Australiens in der mächtigen Queen’s Hall vereinte, beschäftigte sich hauptsächlich mit der Abgrenzung
vom Anarchismus, bekräftigte die Forderung nach Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, erörterte Fragen
des konkreten gewerkschaftlichen Kampfes und nahm zum Monopolisierungsprozeß und zur Agrarfrage Stellung. Zu dem beide polnischen
Delegationen interessierenden nationalen Selbstbestimmungsrecht hieß es in der allgemeinen Resolution: »Der Kongreß erklärt,
daß er für volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen eintritt und mit den Arbeitern jedes Landes sympathisiert, das gegenwärtig
unter dem Joch des militärischen, nationalen oder anderen Despotismus leidet, er fordert die Arbeiter aller dieser Länder
auf, in die Reihen der klassenbewußten Arbeiter der ganzen Welt zu treten, um mit ihnen gemeinsam für die Überwindung des
internationalen Kapitalismus und die Durchsetzung der Ziele der internationalen Sozialdemokratie zu kämpfen.« 71
Die Vertreter der PPS versuchten wie 1893 in Zürich, durch Verleumdung die Mandate der SDKP, vor allem Rosa Luxemburgs, zu
annulieren. Doch dieses Mal gelang ihnen nur, Adolf Warski auszuschließen; Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski und Stanislaw
Wojewski konnten an den Beratungen teilnehmen.
Die Debatte über die polnische Frage im Jahr des Londoner Kongresses veranlaßte, wie Rosa Luxemburg 1905 in ihrem Vorwort
zum Sammelband »Die polnische Frage und die sozialistische Bewegung« schrieb, zu »einer grundlegenden Revision der im westeuropäischen
Sozialismus herrschenden Anschauungen |66| in dreierlei Hinsicht: über die internationalen Verhältnisse, über die Verhältnisse in Rußland und in Polen. Man redet viel
vom ›Dogmatismus‹ der Marxschen Schule. Diese Revision der Ansichten über die polnische Frage bietet ein schlagendes Beispiel,
wie ausgesprochen oberflächlich solche Vorwürfe sind.« 72 Das aber hieß nicht, ihr Standpunkt hätte allgemeine Zustimmung erfahren.
Welche Eindrücke sie von London als Stadt mitnahm, verraten die Quellen nicht. Paris verließ sie 1896 mit bleibenden Erinnerungen
und unauslöschlicher Sehnsucht, denn sie faszinierte diese Weltmetropole. Obwohl sie das Getöse und Gewimmel, die ungewohnt
vielfältigen Arbeiten und das Verlangen nach Liebgewonnenem in Zürich bedrückt hatten, 73 war ihr Paris anders als London von Anfang an ein Wiedersehen wert.
Übrigens können Sie mir zum Doktortitel gratulieren
Das Studium war zwar zuweilen etwas kurz gekommen, Rosa Luxemburg hatte ihre wissenschaftliche Ausbildung aber dennoch nicht
vernachlässigt. Am 5. Mai 1897 schrieb sie an Boris Kritschewski: »Übrigens können Sie mir zum Doktortitel gratulieren, den
ich vor zwei Wochen erworben habe, ich habe die Ehre mich Ihnen als
Doctor juris publici et rerum cameralium
vorzustellen und als solche sende ich Ihnen und allen Ihrigen einen herzlichen Gruß. […] Eine interessante Kuriosität: Ich
habe eine sozialistische Dissertation verfaßt und sie wurde mit großem Lob von Professor
Julius Wolf
angenommen! Das gibt ein
Gaudium!
« 74 Daß eine Frau ihr Studium mit der Dissertation und der Doktorprüfung abschloß, erregte damals auch an der Züricher Universität,
wo Frauenstudium schon zur Normalität geworden war, einiges Aufsehen, zumal der Doktorantin von ihrem Doktorvater und ihren
Prüfern ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt wurde.
Am 12. März 1897 hatte sie ihre Arbeit eingereicht und beim Dekan der Staatswissenschaftlichen Fakultät das Promotionsverfahren
beantragt. Ihrem Antrag wurde entsprochen. Ihre beiden Klausurarbeiten, bei Fritz Fleiner über »Die Staatsverträge« |67| und bei Julius Wolf über »Die Lohnfondtheorie und die Theorie der industriellen Reservearmee«, wurden am 21. und 24. April
1897 angenommen. Stimmten die Universitätsprofessoren auch nicht mit den Anschauungen Rosa Luxemburgs überein und merkten
zu Einzelfragen durchaus Kritisches an, so bescheinigten sie ihr doch großen Fleiß, volle Kenntnis des Gegenstandes, Belesenheit,
Genauigkeit, Schärfe des Denkens und solide wissenschaftliche Arbeit.
Der Studienabschluß hatte von ihr nochmals einen hohen Arbeits- und Kostenaufwand verlangt. Vorlesungen, Prüfungen und das
Diplom mußten extra bezahlt werden. Es handelte sich jeweils um 200 bis 250 Franken. Wie es bei den Abschlußprüfungen zuging,
läßt sich der Beschreibung einer Kommilitonin, der Romanistin
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