Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Redaktions- und persönliche
Angelegenheiten gingen ständig ineinander über. Die jugendfrische Unbeschwertheit ihrer Liebe wurde durch erste Zwistigkeiten
getrübt, die ihren unterschiedlichen Charakteren, Arbeits- und Lebensgewohnheiten entsprangen. Rosa Luxemburgs Bedürfnis nach
Selbstbestimmung und Geltung wuchs. Es kollidierte mit Leo Jogiches’ Verschlossenheit sowie seinem Hang zur Bevormundung.
Da sie beide immer recht haben wollten, gerieten sie bisweilen in Streit. Sie schickte ihm Entwürfe zu Artikeln und zu Abschnitten
ihrer Dissertation, erbaute sich an klugen Diskussionen, wurde jedoch sehr unzufrieden und unbeherrscht, wenn sich der briefliche
Gedankenaustausch nur auf die Politik und Wissenschaft beschränkte. Sie sehnte sich nach einem Lebensstil, der ihnen genügend
Freiraum bot, sich Behaglichkeit zu schaffen, ihre Individualität auszuleben, Natur, Literatur und Kunst ausgiebig zu genießen.
Mit einer völligen Interessenharmonie rechneten beide nicht; Rosa glaubte von Zeit zu Zeit, dennoch mehr Zuwendung und Rücksicht
einfordern zu müssen.
Während sie Leo ständig berichtete, was sie tat, fühlte und |58| dachte, welche Fragen sie quälten, wie sie arbeitete, sich kleidete und wie stark sie das Verlangen nach ihm aufwühlte, tadelte
sie an seinen Briefen die kühle Zurückhaltung in persönlichen Dingen. »Manchmal kommt es mir wirklich vor, daß Du ein Stück
Holz bist.« 53 Schon geniere auch sie sich, von Erlebnissen und Gefühlen, von ihrer Liebe zueinander, ihrem Wunsch nach Wiedersehen und
-fühlen zu schreiben und ihm vorzuschlagen, wie sie künftig erquicklicher miteinander verkehren sollten. Sie könne sich gar
nicht mehr vorstellen, wie er lache. »Warum lachst Du so selten? Du wirst sehen, was für eine häßliche Frau zu Dir zurückkommt,
mit einer langen, dürren Nase und Augenrändern und einem Bart. Willst Du so eine?« 54 Das wollte er natürlich nicht. Außerdem sah sie sich doch selbst meistens in einem viel günstigeren Licht und kokettierte
nicht selten mit ihrem fraulichen Charme.
Von Zeit zu Zeit ist so eine Dusche gesund
Ihren Aufenthalt im Juli 1896 in Paris nutzte Rosa Luxemburg zur Vorbereitung auf den internationalen Sozialistenkongreß,
der für die Zeit vom 27. Juli bis 1. August 1896 nach London einberufen worden war. Sie verständigte sich vor allem mit Cezaryna
Wojnarowska und Adolf Warski und warb bei französischen Sozialisten um Unterstützung für die SDKP auf dem Kongreß.
Im Vorfeld des Kongresses hatten sich die Dispute um die nationale Frage zwischen der SDKP und der PPS verschärft. Klüger
als andere Führer der PPS suchte der theoretische Kopf des Auslandsverbandes Polnischer Sozialisten in Paris, Kazimierz Kelles-Krauz,
Patriotismus und Sozialismus zu verbinden. Die von ihm 1894 unter dem Pseudonym Luśnia herausgegebene Broschüre »Klasowośc
naszego programu« (Der Klassencharakter unseres Programms) beeindruckte Rosa Luxemburg. Sie ließ sie unter den Mitgliedern
der SDKP in Paris und Zürich kursieren und forderte zu Meinungsäußerungen heraus. 55 Kelles-Krauz bekämpfte Rosa Luxemburgs Hauptargument, daß es bereits zu einer endgültigen Verschmelzung polnischer Teilungsgebiete
mit der Wirtschaft der Teilungsmächte gekommen |59| sei. Das Fehlen eines unabhängigen polnischen Staates hemmte nach seiner Ansicht die kapitalistische Entwicklung auf polnischem
Boden, das Entstehen einer bürgerlichen Demokratie und damit auch die Entfaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung. 56 1894 schrieb Kelles-Krauz: »Man darf nicht einmal für einen Augenblick vergessen, daß die Unabhängigkeit Polens in den Bedürfnissen
des Proletariats wurzelt, daß sie in unserem Programm nur aus dem Grunde enthalten ist, weil das Proletariat sich ohne sie
nicht entwickeln kann, und nicht etwa aus diesem Grunde, daß die Stimmung und die Lage des Proletariats sich für die Erkämpfung
der Unabhängigkeit gut eignen. Auf jedem Schritt und Tritt soll man dem Prinzip folgen, daß das unabhängige Polen für das
Proletariat da ist und nicht das Proletariat für das unabhängige Polen.« 57 Das Streben nach einem eigenen Staat war für ihn die Krönung der Nationalidee eines jeden Volkes, so auch des polnischen,
und sollte mit den Forderungen nach Demokratie und Sozialismus verbunden werden.
Zur Verteidigung ihres Standpunktes zitierte Rosa Luxemburg u. a. Ludwik Waryński, der zum 50. Jahrestag des
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