Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Ideal
einer gleichberechtigten sozialistischen Völkergemeinschaft in einer Welt ohne Nationalismus und Chauvinismus der Entwicklung
auf unabsehbare Zeit voraus und erwies sich für die Vertretung unmittelbarer nationaler Interessen als inkompetent.
Rosa Luxemburg, die zu Recht versuchte, sich von Nationalismus abzugrenzen, weil dieser neue Konflikte zwischen den Völkern
heraufbeschwor, formulierte ihren Standpunkt über die historische Vergänglichkeit der Nationalstaaten und über die Unterordnung
nationaler Befreiungsbestrebungen unter die soziale Emanzipation so absolut, daß sie in Widerspruch zu den nationalen Interessen
des polnischen Volkes geriet, bei nicht wenigen Sozialdemokraten in der II. Internationale auf Unverständnis stieß und sich
zu isolieren drohte.
Victor Adler, Führer der österreichischen Sozialdemokratie, kritisierte Rosa Luxemburgs Ansichten als unzeitgemäß und fürchtete,
daß durch die »doktrinäre Gans« vieles verdorben und die überflüssige, aber harmlose polnische Resolution für den Londoner
Kongreß zu einer Affäre aufgebauscht werde. 65 Manchen schien sie in politischen und taktischen Fragen einfach noch zu unerfahren. Rosa Luxemburg dürfte jedoch gewußt haben,
in welchem Kontrast sie sich z. B. zu Friedrich Engels’ Meinung befand, der 1892 in seinem Vorwort zum »Manifest der Kommunistischen
Partei« von der »unverwüstlichen Lebenskraft des polnischen Volkes« geschrieben hatte, |64| die »eine neue Garantie seiner bevorstehenden nationalen Wiederherstellung« sei. Für das harmonische Zusammenwirken der europäischen
Nationen sei ein unabhängiges, starkes Polen unbedingt notwendig. Erkämpft werden aber könne es »nur vom jungen polnischen
Proletariat«. 66
Karl Kautsky honorierte Rosa Luxemburgs Aufrichtigkeit in der Polemik, indem er noch vor dem internationalen Kongreß mit dem
zweiteiligen Aufsatz »Finis Poloniae?« Stellung nahm. 67 Er bejahte ihre Argumente teilweise: die internationale Bedeutung der früheren Losung der Wiedergeburt Polens sei geschwunden,
und es sei verkehrt, »die alte Schablone« wiederzubeleben. Der neuen Internationale könne man nicht zumuten, in bezug auf
Polen genau die Haltung einzunehmen wie die erste Internationale, an deren Wiege angesichts des polnischen Aufstandes 1863/64
die polnische Frage stand. 68 Polen gelte nicht mehr als Revolutionsland par exzellence und Rußland nicht mehr ausschließlich als Hort der Reaktion. Kein
europäischer Staat stehe so nahe vor einer politischen Revolution wie Rußland. Diese müsse unweigerlich die Lösung der polnischen
Frage einschließen, und sei es auch zunächst in einem bürgerlichen Klassenstaat. 69
Kautsky widersprach jedoch Rosa Luxemburgs Standpunkt, das Postulat eines unabhängigen Polens sei unerreichbar, bzw. der Behauptung,
mit nationalen Ambitionen aus Kreisen der polnischen Bourgeoisie oder Bauernschaft sei überhaupt nicht mehr zu rechnen und
im Kleinbürgertum wie in der Intelligenz lägen keinerlei Potenzen für eine wirksame Opposition gegen die zaristische Fremdherrschaft.
Daher könne er Rosa Luxemburgs Behauptung nicht zustimmen, »die nationale Bewegung sei ein Ding der Vergangenheit, ohne festen
Boden in der Gegenwart und in völligem Widerspruch zu den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung« 70 . Die zu entwickelnde sozialistische Bewegung als Massenbewegung ließe zwangsläufig immer wieder nationale Verschiedenheiten
spürbar werden; Rosa Luxemburg unterschätze bei ihrer Fixierung auf die ökonomischen Entwicklungsprozesse die Sprache und
die Rolle von Sprachgemeinschaften, die schließlich auch für die Einflußnahme der sozialdemokratischen Parteien in ihren Ländern
wichtig seien. Aus all diesen Gründen könne er einem |65| Verzicht auf die Forderung nach der Unabhängigkeit Polens nicht beipflichten, so berechtigt viele Überlegungen des »Frl. Rosa
Luxemburg« seien, insbesondere ihre Warnung vor Nationalismus und Chauvinismus. Allerdings teile er ihre Ansicht, daß sich
ein internationaler Kongreß nicht zum Schiedsrichter in nationalen Streitfragen machen dürfe, zumal die von der PPS eingereichte
Resolution auch einseitig sei.
Diese Resolution wurde ebensowenig behandelt und angenommen wie die der SDKP. Der Londoner Kongreß, der sich das erste Mal
als Internationaler sozialistischer Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß bezeichnete und etwa 700 Delegierte aus 21 Ländern
Europas, Amerikas
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