Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Rosa Luxemburg war empört. Nicht einmal für die sofortige Abschaffung der Todesstrafe
seien sie eingetreten. Und ihre Hetze gegen Spartakus bringe sie in eine gefährliche Kumpanei mit der bürgerlichen Reaktion,
die der Revolution nur schaden könne.
Rosa Luxemburgs Denken und Handeln während der Revolutionswochen 1918/19 offenbart noch einmal zahlreiche Probleme und Widersprüche,
mit denen sie in ihrem Demokratie- und Parteiverständnis zu ringen hatte. Sie wußte, welch hohen Anspruch die Forderung nach
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beinhaltete, und hatte selbst zur Genüge erleben müssen, daß durch den unversöhnlichen
Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in einer bürgerlichen Demokratie weder die politische noch die soziale Gleichberechtigung
aller Bürger zu gewährleisten ist. Die Ausgrenzung Andersdenkender durch Verleumdung, Verfolgung, Verurteilung oder durch
»Sicherheitshaft« hatte sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Daß auch in Sowjetrußland uneingeschränkte Freiheit und Demokratie
für alle eine Utopie blieb, schmerzte sie unsäglich. Rosa Luxemburg plädierte dennoch uneingeschränkt für die Rätemacht. Ihrer
Auffassung nach mußte die Revolution über die bürgerliche Demokratie hinausführen, sollte aber deren verhaßte Unterdrückungsmethoden
konsequent ablehnen. Ihrer Ansicht nach gab es dafür in Deutschland zwar günstigere Voraussetzungen als in Rußland, jedoch
litten hier die Kämpfe unter den Auswirkungen der Spaltung der Arbeiterbewegung. Die große Raffinesse der Revolutionsgegner
bei der Ausnutzung bürgerlich-demokratischer Institutionen mußte als zusätzliche Irritation einkalkuliert werden.
Ungehalten hatte Rosa Luxemburg an Julian Marchlewski am |598| 30. September 1918 aus dem Breslauer Gefängnis geschrieben: »Es müssen wohl schon furchtbare Dinge geschehen, ehe dieses Volk
sich rührt. Aber langsam sieht es danach aus. Der Skandal für die Soz[ialisten] ist endgültig, wenn wieder Kanonen – diesmal
amerikanische – den Frieden diktieren [und] nicht die Aktion des Proletariats.« 43 Nach dem Ausbruch der Revolution war sie optimistischer gestimmt. In Deutschland kam es ihrer Meinung nach vor allem darauf
an, gegen die auch in der Arbeiterbewegung weit verbreiteten parlamentarischen Illusionen anzukämpfen. »Es gilt, an den durch
die bürgerlichen Klassen anderthalb Jahrhunderte lang mißbrauchten Worten die praktische Kritik historischer Handlungen zu
üben«, schrieb sie am 17. Dezember 1918 in der »Roten Fahne«. »Es gilt, die ›Liberté, Egalité, Fraternité‹, die 1789 in Frankreich
vom Bürgertum proklamiert worden ist, zum ersten Mal zur Wahrheit zu machen – durch die Abschaffung der Klassenherrschaft
des Bürgertums. Und als ersten Akt zu dieser rettenden Tat gilt es vor aller Welt und vor den Jahrhunderten der Weltgeschichte
laut zu Protokoll zu geben: Was bisher als Gleichberechtigung und Demokratie galt: Parlament, Nationalversammlung, gleicher
Stimmzettel, war Lug und Trug! Die ganze Macht in der Hand der arbeitenden Masse, als revolutionäre Waffe zur Zerschmetterung
des Kapitalismus – das allein ist wahre Gleichberechtigung, das allein wahre Demokratie!« 44
Leidenschaftlich hatte Rosa Luxemburg vor zwei Jahrzehnten gegen Bernsteins Überbetonung von Reformbestrebungen polemisiert.
Zugleich war sie konstruktiv für den energischen Kampf um Reformen zur Demokratisierung der Gesellschaft eingetreten und hatte
nicht zuletzt deshalb für den politischen Massenstreik als wirksames Druckmittel votiert. Jetzt mußte sie erleben, wie die
Revolution durch Reformen erstickt werden sollte. Sie proklamierte die sozialistische Demokratie als höchstes Ziel. Wann und
wie die Mehrheit dafür zu gewinnen wäre, blieb auch für sie ziemlich im dunkeln.
Rosa Luxemburg nahm durchaus wahr, wie zersplittert die revolutionären Kräfte waren und daß die Aktionsbereitschaft vieler
Arbeiter und Soldaten erlahmte. Dennoch setzte sie in den politischen Reifeprozeß der Massen von Woche zu Woche größere Erwartungen
und versuchte durch uneingeschränktes |599| Vertrauen in die Massen sich und ihren Kampfgefährten Kraft zum Handeln zu geben. Am 1. Dezember 1918 sprach sie in einer
der sechs öffentlichen Versammlungen des Spartakusbundes im Berliner Lehrervereinshaus zu dem Thema: Was will der Spartakusbund?
Ihren Ausführungen schloß sich eine längere Diskussion an. Die etwa 3 000
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