Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
stellen.« 39 Die von anderen verherrlichten Wahlen zur Nationalversammlung betrachtete sie als das gefährlichste Gegengewicht zur Rätemacht.
Hatte sie Lenin noch vor Monaten für die Aufhebung der Konstituante heftig kritisiert und die Vereinigung von Konstituante
und Sowjets als die bessere machtpolitische Lösung im parlamentarisch unerfahrenen Rußland empfohlen, so votierte sie jetzt
in der deutschen Revolution ausschließlich für Arbeiter- und Soldatenräte.
Nur in der Errichtung einer sozialistischen Demokratie sah sie einen erfolgversprechenden Weg: »Nicht darum handelt es sich
heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet:
bürgerli
che
Demokratie oder
sozialistische
Demokratie. Denn Diktatur des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind
nicht Bomben, Putsche, Krawalle, ›Anarchie‹, wie die Agenten des kapitalistischen Profits zielbewußt fälschen, sondern das
ist der Gebrauch aller politischen Machtmittel zur Verwirklichung des Sozialismus, zur Expropriation der Kapitalistenklasse
– im Sinne und durch den Willen der revolutionären Mehrheit des Proletariats, also im Geiste sozialistischer Demokratie.« 40
Geduld für die noch Suchenden, Kampf um die Schwankenden, Kritik an Zauderern, Distanz zu feigen Unterhändlern und schonungslose
Abrechnung mit den Feinden der Revolution zeichneten Rosa Luxemburgs Äußerungen aus. Sie wußte, daß um jeden einzelnen Arbeiter
und Soldaten hartnäckig gerungen werden mußte. »Der reaktionäre Staat der zivilisierten |596| Welt wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Rußland, der Ukraine, im Baltikum
als Gendarmen der Reaktion revolutionäre Proletarier mordeten, und Arbeiter, die dies ruhig geschehen ließen, sind nicht in
24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus geworden.« 41
Rosa Luxemburg vertraute jedoch nach wie vor fest auf die revolutionäre Entschlußkraft der Massen und die Überzeugungsfähigkeit
revolutionärer Führer wie sie selbst. Aber reichte ihre Verbindung zu den Massen aus und schätzte sie das Kräfteverhältnis
zwischen den verschiedenen politischen Akteuren realistisch genug ein, um die richtigen Entscheidungen für einen Fortgang
der Revolution treffen zu können? Zweifel sind berechtigt, denn die Anhänger des Spartakusbundes blieben eine Minderheit.
Die wenigen Mitglieder der Zentrale waren mit der Aufgabe, ihre Anhänger täglich über das Revolutionsgeschehen zu informieren,
überfordert. Da sich die Ereignisse überschlugen, war schon die Verständigung untereinander schwierig. Die ständig notwendige
Abwehr von Verleumdungs- und Verfolgungskampagnen ließ oft kaum Raum für eigene Gedanken. Auch der aufopferungsvolle Einsatz
aller Mitglieder der Zentrale des Spartakusbundes und vieler Sympathisanten konnte keine sichere Gewähr für konzentrierte
Aktionen bieten, zumal sie nicht durch das Organisationsnetz einer Partei unterstützt wurden. Dennoch wurde bereits Aufbauarbeit
geleistet: Es gab Kontakte zu revolutionären Obleuten in den Berliner Betrieben, Jugendliche begannen sich zu organisieren
und an Spartakus anzulehnen. In Rosa Luxemburgs Briefen an Clara Zetkin ist auch von Frauen- und Bildungsarbeit die Rede.
Ende November schrieb sie der Freundin, daß linke USPD-Mitglieder vom Spartakusbund prinzipielle Kritik an der SPD-USPD-Regierung
erwarteten. »Ihre Sehnsucht geht offenbar dahin, so rasch als möglich aus der fatalen Verkoppelung mit den Scheidemännern
sich zu befreien und mit uns zusammenzugehen.« 42
Der Wunsch nach Masseneinfluß und die tatsächliche Wirkung klafften jedoch weit auseinander. Zu den Organen, die sich im Aufwind
der Revolution gebildet hatten, zum Rat der Volksbeauftragten und zum Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, |597| stand der Spartakusbund in Opposition. Hauptschuld am schleppenden Fortgang der Revolution gab Rosa Luxemburg speziell den
Führern der SPD und USPD, die sich in ihren Regierungsfunktionen nicht für den Ausbau revolutionärer Errungenschaften einsetzten.
Sie votierten für die Nationalversammlung und begriffen nicht, daß die Revolution damit im Höchstfalle auf dem Niveau einer
bürgerlich-demokratischen Republik eingefroren werde. Wie konnten sie den alten Verwaltungs- und Justizapparat des Kaiserreiches
unangetastet weiterarbeiten lassen?
Weitere Kostenlose Bücher