Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Auffassung von Ebert, Haase und anderen, des Krieges und der Gewalt sei genug, die Nationalversammlung
solle über die zukünftige Gesellschaftsordnung in Deutschland entscheiden, setzte sie entgegen, die herrschende Klasse der
Bourgeoisie besitze sämtliche ökonomischen und sozialen Machtmittel und könne nicht wie eine Partei durch ein Parlament entmachtet
werden. So, wie sich die Bourgeoisie in der Französischen Revolution ihr politisches Klassenorgan in der Nationalversammlung
geschaffen habe, so müsse das Proletariat in seiner Revolution sein politisches Machtorgan schaffen, »das Arbeiterparlament,
die Vertretung des Stadt- und Landproletariats«. Die Nationalversammlung sei ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher
Illusionen vom »einigen Volk«, von der »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« des bürgerlichen Staates.
Wer für die Nationalversammlung plädiere, schraube die Revolution »bewußt oder unbewußt auf das historische Stadium bürgerlicher
Revolutionen zurück; ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewußter Ideologe des Kleinbürgertums«. 33
Mit ihrem Plädoyer für Arbeiter- und Soldatenräte trat Rosa Luxemburg dafür ein, die Revolution fortzusetzen, mehr und mehr
zur sozialen Revolution überzugehen und sich auf die sozialistische Alternative zu orientieren.
Wie die Führer der Mehrheitssozialdemokratie tendierte auch |594| der rechte Flügel der USPD zu einer baldigen Einberufung der Nationalversammlung. In der »Freiheit« erschien ein Artikel nach
dem andern, in denen behauptet wurde, die Räte müßten früher oder später hinter der Nationalversammlung zurücktreten. Am 18.
November schrieb z. B. Rudolf Hilferding, daß die deutschen Arbeiter »in den Gedankengängen des Sozialismus geschult« seien
und deshalb bei Wahlen keine Niederlage erleiden würden. Unbeschränkte Fortdauer der Diktatur der Räte führe zum Bürgerkrieg. 34 In dem Fortsetzungsartikel »Nationalversammlung und Räteversammlung« wiederholte Karl Kautsky seinen Standpunkt, die Räte
seien eine Kampforganisation des Proletariats und dürften deshalb nicht zu proletarischen Staatsorganen werden. 35 Er hatte diese These bereits im Sommer 1918 in seiner Schrift »Die Diktatur des Proletariats« gegen die Oktoberrevolution
aufgestellt. 36 Kautsky riet zur Eile. Es sei höchste Zeit, das Stadium des Provisoriums und der Unsicherheit zu überwinden. Das Wahlsystem
zur Nationalversammlung weise »größere Klarheit« auf als das »undurchsichtige« der Räte und besitze infolgedessen eine »unzweideutige
Autorität«. 37 Damit verwandelte er die Kernfrage der Revolution, die Frage der Macht, in eine formaljuristische über die Form der Wahlen.
Das Proletariat brauche jedoch, konterte Rosa Luxemburg am 24. November, »zur rücksichtslosen Abschaffung des kapitalistischen
Privateigentums, der Lohnsklaverei, der bürgerlichen Klassenherrschaft, zum Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung
die gesamte politische Macht im Staate« 38 . Der Sozialismus könne nicht per parlamentarischen Mehrheitsbeschluß eingeführt werden.
Die Machtfrage als Grundproblem einer jeden Revolution stand im Zentrum aller Meinungsäußerungen Rosa Luxemburgs während der
Novemberrevolution. Wie in ihrem Manuskript »Zur russischen Revolution« verwies sie immer wieder darauf, daß Volksmassen durch
eigene Erfahrung, durch die Partei sowie andere Arbeiterorganisationen zu bewußten und zielgerichteten Aktionen befähigt werden
müßten. Unaufhörlich unterbreitete sie ihren Lesern und Zuhörern Vorschläge, wie elementare spontane Massenaktionen für die
bewußte Machtergreifung und -ausübung durch das Volk genützt werden |595| könnten. Solche zentralen Forderungen waren unter anderen: »Ausbau und Wiederwahl der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte,
damit die erste chaotische und impulsive Geste ihrer Entstehung durch bewußten Prozeß der Selbstverständigung über Ziele,
Aufgaben und Wege der Revolution ersetzt wird; ständige Tagung dieser Vertretungen der Masse und Übertragung der eigentlichen
politischen Macht aus dem kleinen Komitee des Vollzugsrates in die breitere Basis des A.-u. S.-Rates; schleunigste Einberufung
des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische
Macht zu konstituieren und hinter das Werk der Revolution als ihre Schutzwehr und ihre Stoßkraft zu
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