Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Blonay?
Erinnerst Du Dich, daß wir dann die ganze Welt nicht brauchen, wenn nur wir selbst miteinander eins sind?« 127
Sie rief ihm eindringlich ihre schönsten gemeinsamen Erlebnisse ins Gedächtnis und seufzte: »Ach Dziodziu, Dziodziu! Laß uns
doch möglichst schnell zu zweit vor der ganzen Welt verstecken in zwei Zimmerchen, wir werden arbeiten, werden selbst kochen,
und es wird uns so gut, so gut gehen!« 128
Anscheinend sehe ich aus wie ein Mensch, der die Pflicht hat,
ein großes Werk
zu schreiben
Bald schon stand für Rosa Luxemburg wieder die Arbeit im Vordergrund, und im Briefwechsel mit dem Geliebten dominierte erneut
das Thema »Bernstein«. Sie bat Jogiches, ihr Ausarbeitungen zum Blanquismus oder zur Kartellwirtschaft zu schicken und ihr
zu helfen, ein »geniales Vorwort« zustande zu bringen. »Ich bin in den paar Tagen abgemagert wie ein Stock. Aber das ist unwichtig,
es geht nur darum, das Ufer zu erreichen, ehrenvoll aus der Schlacht hervorzugehen.« 129 Von einem Zusammensein könne jetzt nicht die Rede sein. Schon im September 1898 hatte Bruno Schoenlank Rosa Luxemburg gesagt,
er möchte ihre Artikelserie gegen Bernstein bearbeitet und erweitert als Broschüre herausgeben. Arbeiten Sie an einem größeren
Werk? war sie von Franz Mehring und Karl Kautsky im Dezember wiederholt gefragt worden. Am 12. Dezember 1898 stimmte sie Leo
Jogiches zu, »daß eben die Bernstein-Frage jenes große Werk sein muß, das ich zu schreiben habe« 130 . Und zwar nach Bernsteins Broschüre, zu der ihn Bebel und |121| Kautsky aufgefordert hatten. Die in der Partei herrschende
»Mattigkeit und Abwartung«
131 gegenüber Bernsteins Theorien mißfiel Rosa Luxemburg. Sie bereitete daher eine 2. Serie ihrer Artikelfolge in der »Leipziger
Volkszeitung« vor. Jogiches’ Einwand, es wäre jetzt vielleicht ratsamer, in der »Neuen Zeit« zu publizieren, schob sie aus
mehreren Erwägungen beiseite: Schoenlank werde ihr Bernsteins Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der
Sozialdemokratie«, das im März 1899 erscheinen solle, postwendend oder sogar als Korrekturabzug schicken. In der »Neuen Zeit«
würde Karl Kautsky vermutlich »selbst schmieren« und den Druck der Artikel hinauszögern. In der »Leipziger Volkszeitung« könne
sie an ihre erste Serie direkt anknüpfen, schneller reagieren und »erforderlichenfalls losballern, wie das in der Polemik
notwendig zu sein pflegt« 132 . Außerdem dürfe sie in Leipzig auf den sofortigen Druck aller Artikel als Broschüre hoffen.
Sie recherchierte natürlich, was sonst noch an Publikationen gegen Bernstein bzw. den Revisionismus zu erwarten war. Ihr Urteil
fiel skeptisch und sehr kritisch aus. Von Kautskys angekündigtem Buch gegen Eduard Davids Agrarrevisionismus erwartete sie
eine seiner typischen Arbeiten: Ehrfurcht gebietend, mit Fakten vollgepfropft und ohne überzeugende Antworten auf die aufgeworfenen
Fragen. 133 Als sie dann das umfangreiche Werk über die »Agrarfrage« las, entdeckte sie Berührungspunkte und hielt das Buch für eine
»sehr tüchtige Arbeit«, die ihr allerdings auch viel weggeschnappt habe. 134 Heinrich Cunow dagegen hatte ihr mit seinem Artikel »Zur Zusammenbruchstheorie« in der »Neuen Zeit« nicht die besten Suppen
weggegessen. 135
Rosa Luxemburg plante von vornherein eine aufsehenerregende Streitschrift, die Furore machen sollte. In Bruno Schoenlank besaß
sie einen Förderer, der sie als temperamentvolle und kluge Frau schätzte, sie in seine Familie eingeführt und ihre Dissertation
euphorisch mit »echt Marx in seiner besten Zeit« beurteilt hatte. 136 Sie spürte das Bedürfnis, »›etwas Großes zu sagen‹, […] so zu schreiben, daß ich auf die Menschen wie der Blitz wirke, sie
am Schädel packe, selbstredend nicht durch Pathos, sondern durch die Weite der Sicht, die Macht der Überzeugung und die Kraft
des Ausdrucks« 137 .
|122| Vom 4. bis 8. April erschien unter dem Titel »Sozialreform oder Revolution?« in der »Leipziger Volkszeitung« die zweite Serie
ihrer Artikelfolge zur Auseinandersetzung mit Eduard Bernsteins Ansichten. Wie bereits die erste fand sie bei vielen Zustimmung
und wurde in anderen Parteizeitungen nachgedruckt. August Bebel, Clara Zetkin und Julius Motteler hoben besonders die Kampfstimmung
und den praktischen Nutzen hervor. Als der Wunsch nach einer Broschüre mit allen ihren Artikeln geäußert wurde, war Rosa Luxemburg
sofort
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