Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
einverstanden. Sie beschloß, die Artikel gegen Schippel als Anhang hinzuzufügen, dann wäre die Schrift ein »vollständiger
Katechismus des Opportunismus« 138 . Kurze Zeit später gelangte die Schrift »Sozialreform oder Revolution? mit einem Anhang: Miliz und Militarismus« in 3000
Exemplaren auf den Markt, von denen nach wenigen Wochen 2400 verkauft waren.
Rosa Luxemburg hatte bewußt den Titel ihrer Artikelserie »Sozialreform oder Revolution?« gewählt, weil sie beide Begriffe
für populär und attraktiv hielt. Jogiches’ Vorschlag, einen Titel mit dem Wort »Opportunismus« zu wählen, lehnte sie ab, da
die Massen mit diesem Begriff nichts anfangen könnten. Auch war sie nicht mehr auf jeden seiner kritischen Hinweise eingegangen.
Das Ergebnis ihrer Arbeit berauschte sie zunächst keineswegs. »Namentlich die Form des Schreibens befriedigt mich nicht, ich
spüre, daß mir ›in der Seele‹ eine ganz neue, originelle Form heranreift, die sich nichts aus Formeln und Schablonen macht
und sie durchbricht – natürlich nur durch die Kraft des Geistes und der Überzeugung. […] Aber wie, was, wo? Das weiß ich noch
nicht.« 139
Da der Verleger einen geringen Absatz befürchtet hatte, bekam Rosa Luxemburg für die erste Auflage kein Honorar. Doch sie
war froh, neuen Schwung in die Bernsteindebatte gebracht zu haben.
In ihrem Vorwort sprach sie den Kernpunkt der Auseinandersetzungen an: »Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten
Blick überraschen. Sozialreform
oder
Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie
gegen
die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet,
der Sozialreform
entgegenstellen?
Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie |123| bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem
Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten
und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und die Aufhebung des Lohnsystems, hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie
besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die
Sozialreform
das Mittel
, die soziale Umwälzung aber
der Zweck
ist.« 140
Diese beiden Momente stelle Eduard Bernstein einander entgegen. Seine Theorie laufe auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung,
das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem
Zwecke zu machen.
Rosa Luxemburg wagte sich mutig an die Beantwortung einer zentralen Frage, die über das ganze 20. Jahrhundert hinweg die Gemüter
erregt hat und immer wieder Menschen, die an einer Veränderung der gesellschaftlichen Zustände interessiert sind, über den
erfolgversprechendsten Weg und die bisherigen Erfahrungen großer Niederlagen nachdenken läßt. Die Mißachtung der Dialektik
von Reform und Revolution hat bisher zu keinem dauerhaften Erfolg beim Aufbau des Sozialismus geführt. Rosa Luxemburgs Thesen
bleiben deshalb als Denkanstöße von Wert.
Als sie ihre Schrift vorlegte, galt vielen Sozialdemokraten bzw. Sozialisten die Marxsche These von der historischen Mission
der Arbeiterklasse zum revolutionären Sturz des Kapitalismus, zur Eroberung der politischen Macht und zur Errichtung der sozialistischen
Gesellschaft als wegweisend und realisierbar. Gestritten wurde darüber, ob und wann die große Krise des Kapitalismus eintreten
und die Herrschaft des Kapitals, die sich über koloniale Eroberungen und Kriege weltweit ausdehnte, so in sich zusammenbreche,
daß sie nur noch beseitigt und durch etwas völlig Neues ersetzt werden müsse.
Rosa Luxemburg verurteilte Bernsteins Revisionsvorstoß ohne Wenn und Aber als untauglichen Versuch eines vom Sozialismus wegdriftenden
Sozialreformers und respektierte nur bedingt sein erklärtes Festhalten am Sozialismus als Ziel, zumal |124| er dies in sehr weite Ferne gerückt sah. Trotz ihrer kritischen Kreativität betrachtete auch sie die von Bernstein ausgelöste
Debatte nicht konsequent als einen unter Marxisten notwendigen und natürlichen Streit, um einen den Realitäten am ehesten
entsprechenden Weg zu reformerischen und revolutionären Veränderungen zu suchen, und spitzte sie auf die Abstimmung über das
Rechthaben des linken oder
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