Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
Vom Netzwerk:
einverstanden. Sie beschloß, die Artikel gegen Schippel als Anhang hinzuzufügen, dann wäre die Schrift ein »vollständiger
     Katechismus des Opportunismus« 138 . Kurze Zeit später gelangte die Schrift »Sozialreform oder Revolution? mit einem Anhang: Miliz und Militarismus« in 3000
     Exemplaren auf den Markt, von denen nach wenigen Wochen 2400 verkauft waren.
    Rosa Luxemburg hatte bewußt den Titel ihrer Artikelserie »Sozialreform oder Revolution?« gewählt, weil sie beide Begriffe
     für populär und attraktiv hielt. Jogiches’ Vorschlag, einen Titel mit dem Wort »Opportunismus« zu wählen, lehnte sie ab, da
     die Massen mit diesem Begriff nichts anfangen könnten. Auch war sie nicht mehr auf jeden seiner kritischen Hinweise eingegangen.
     Das Ergebnis ihrer Arbeit berauschte sie zunächst keineswegs. »Namentlich die Form des Schreibens befriedigt mich nicht, ich
     spüre, daß mir ›in der Seele‹ eine ganz neue, originelle Form heranreift, die sich nichts aus Formeln und Schablonen macht
     und sie durchbricht – natürlich nur durch die Kraft des Geistes und der Überzeugung. […] Aber wie, was, wo? Das weiß ich noch
     nicht.« 139
    Da der Verleger einen geringen Absatz befürchtet hatte, bekam Rosa Luxemburg für die erste Auflage kein Honorar. Doch sie
     war froh, neuen Schwung in die Bernsteindebatte gebracht zu haben.
    In ihrem Vorwort sprach sie den Kernpunkt der Auseinandersetzungen an: »Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten
     Blick überraschen. Sozialreform
oder
Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie
gegen
die Sozialreform sein? Oder kann sie die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet,
     der Sozialreform
entgegenstellen?
Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie |123| bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem
     Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten
     und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und die Aufhebung des Lohnsystems, hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie
     besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die
     Sozialreform
das Mittel
, die soziale Umwälzung aber
der Zweck
ist.« 140
    Diese beiden Momente stelle Eduard Bernstein einander entgegen. Seine Theorie laufe auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung,
     das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem
     Zwecke zu machen.
    Rosa Luxemburg wagte sich mutig an die Beantwortung einer zentralen Frage, die über das ganze 20. Jahrhundert hinweg die Gemüter
     erregt hat und immer wieder Menschen, die an einer Veränderung der gesellschaftlichen Zustände interessiert sind, über den
     erfolgversprechendsten Weg und die bisherigen Erfahrungen großer Niederlagen nachdenken läßt. Die Mißachtung der Dialektik
     von Reform und Revolution hat bisher zu keinem dauerhaften Erfolg beim Aufbau des Sozialismus geführt. Rosa Luxemburgs Thesen
     bleiben deshalb als Denkanstöße von Wert.
    Als sie ihre Schrift vorlegte, galt vielen Sozialdemokraten bzw. Sozialisten die Marxsche These von der historischen Mission
     der Arbeiterklasse zum revolutionären Sturz des Kapitalismus, zur Eroberung der politischen Macht und zur Errichtung der sozialistischen
     Gesellschaft als wegweisend und realisierbar. Gestritten wurde darüber, ob und wann die große Krise des Kapitalismus eintreten
     und die Herrschaft des Kapitals, die sich über koloniale Eroberungen und Kriege weltweit ausdehnte, so in sich zusammenbreche,
     daß sie nur noch beseitigt und durch etwas völlig Neues ersetzt werden müsse.
    Rosa Luxemburg verurteilte Bernsteins Revisionsvorstoß ohne Wenn und Aber als untauglichen Versuch eines vom Sozialismus wegdriftenden
     Sozialreformers und respektierte nur bedingt sein erklärtes Festhalten am Sozialismus als Ziel, zumal |124| er dies in sehr weite Ferne gerückt sah. Trotz ihrer kritischen Kreativität betrachtete auch sie die von Bernstein ausgelöste
     Debatte nicht konsequent als einen unter Marxisten notwendigen und natürlichen Streit, um einen den Realitäten am ehesten
     entsprechenden Weg zu reformerischen und revolutionären Veränderungen zu suchen, und spitzte sie auf die Abstimmung über das
     Rechthaben des linken oder

Weitere Kostenlose Bücher