Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Demokratie. Demnach wurde der Sozialismus, losgelöst vom Antagonismus der Klassen und deren Kampf, zur Gesetzestat.
Im Gegensatz dazu verteidigte Rosa Luxemburg die marxistische These vom Klassencharakter des bürgerlichen Staates. In ihrer
Schrift »Sozialreform oder Revolution?« bewies sie diese an Hand der volksfeindlichen Politik, die der halbabsolutistische
preußisch-deutsche Militärstaat im Interesse des Expansionsdranges des Finanzkapitals und aggressiver bourgeoiser Kreise,
besonders der Schwerindustrie, betrieb. Um die Jahrhundertwende wurde diese »Weltpolitik« vor allem in der Zoll- und Kolonialpolitik
sowie in den Tirpitzschen Flottenrüstungsplänen sichtbar. Schon wenige Jahre nach dem Scheitern des Sozialistengesetzes hatte
die Regierung Hohenlohe 1894 außerdem Grundzüge eines Gesetzentwurfes ausgearbeitet, die eine Änderung beziehungsweise die
Ergänzung des Strafgesetzbuches und der Pressegesetze gegen »umstürzlerische Bestrebungen« vorsahen. Diese sogenannte Umsturzvorlage
war 1895 vom Reichstag abgelehnt worden. Im Jahre 1897 war unter der Regie des ehemaligen Generalstabschefs von Waldersee
ein erneuter Versuch unternommen worden, die Arbeiterbewegung mit dem sogenannten kleinen Sozialistengesetz polizeilich zu
unterdrücken. Der preußische Landtag hatte aber gegen die Stimmen der Konservativen diese Vorlage abgelehnt, die der Polizei
das Recht geben sollte, alle Versammlungen und Vereine aufzulösen, wenn sie die »öffentliche Sicherheit« bedrohten. Angesichts
der Streikkämpfe 1898/99 brachte die Regierung am 20. Juli 1899 im Reichstag einen Gesetzentwurf »Zum Schutze des gewerblichen
Arbeitsverhältnisses« ein, der das Streik- und Koalitionsrecht der Arbeiter aufheben sollte. Dieses Gesetz, die sogenannte
Zuchthausvorlage, scheiterte am Widerstand der werktätigen Massen, der von der deutschen Sozialdemokratie wesentlich beeinflußt
worden war.
Aus den Beobachtungen dieser Reaktionen im Lager der Regierung und der einflußreichen herrschenden Kreise auf das |127| Wachsen der Arbeiterbewegung schlußfolgerte Rosa Luxemburg, die bürgerliche Demokratie befinde sich am Übergang von der aufsteigenden
zur absteigenden Linie. 146 Die bürgerliche Demokratie werde nicht in dem Maße lebensfähig, »wie die Arbeiterklasse ihren Emanzipationskampf aufgibt,
sondern umgekehrt in dem Maße, wie die sozialistische Bewegung stark genug wird, gegen die reaktionären Folgen der Weltpolitik
und der bürgerlichen Fahnenflucht anzukämpfen« 147 . Wer hauptsächlich darauf orientieren wolle, über die Gewerkschaften und Genossenschaften eine »gesellschaftliche Kontrolle«
auszuüben, verkenne gänzlich die Situation und das Wesen des bürgerlichen Staates. Zweifellos sei die Demokratie unentbehrlich,
»weil nur in ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zum Bewußtsein seiner Klasseninteressen
und seiner geschichtlichen Aufgaben kommen kann« 148 . Die Demokratie dürfe jedoch nicht zum Selbstzweck und der bürgerliche Parlamentarismus nicht als der entscheidende Zugang
zu einem friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus betrachtet werden. Im Kampf für demokratische Rechte und Freiheiten,
um die Verteidigung und Erweiterung der bürgerlichen Demokratie ging es nach Rosa Luxemburg, ähnlich wie das Friedrich Engels
in seiner Einleitung zur Marxschen Schrift »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« formuliert hatte, um einen möglichst
günstigen Boden für den proletarischen Emanzipationskampf. Sozialreform und Revolution betrachtete sie als zwei Momente in
der Entwicklung der Klassengesellschaft, die nicht starr voneinander getrennt werden dürfen. Sie bedingten und ergänzten einander
und schlössen einander doch aus wie »Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat« 149 . Die Revolution sei, wie Rosa Luxemburg schrieb, der politische Schöpfungsakt einer neuen Gesellschaftsordnung, während die
Reform diesen Akt vorbereite. 150 Indem Bernstein die Reform verabsolutiere, stelle er sich auf den Boden der Erhaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
Fazit der Luxemburgschen Analyse und Kritik war: »Bernstein läßt sein Buch in den Rat an die Partei ausklingen, sie möge zu
scheinen wagen, was sie sei: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Die Partei, d. h. ihr oberstes Organ, der Parteitag,
müßte unseres Erachtens diesen Rat quittieren, indem er
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