Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
ihre Appelle, Ruhe und Ordnung zu
wahren, nicht an die ausübende Gewalt, sondern an die Demonstranten. |175| Das »Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands« hatte nichts Eiligeres zu tun, als dieser Meldung
hinzuzufügen, ein Generalstreik deutscher Arbeiter wäre ein total verfehltes Unternehmen. 82
Das Internationale Sozialistische Büro erließ einen Aufruf zur Unterstützung des politischen Massenstreiks in Belgien, dem
sich der deutsche Parteivorstand anschloß. Als erste Solidaritätsspende überwies er 10 000 Mark. Der Generalstreik der belgischen Arbeiter dauerte bis zum 20. April 1902. An diesem Tag gab die Leitung der Belgischen
Arbeiterpartei gegen den Widerstand vieler Streikenden, vor allem in den Bergbaurevieren, die Parole zur Arbeitsaufnahme aus.
Das belgische Parlament hatte sich trotz der Massenkundgebungen nicht dazu bewegen lassen, das allgemeine Wahlrecht einzuführen.
Rosa Luxemburg gehörte zu den ersten, die nach den Ursachen der Niederlage forschten – stellte doch der jähe Zusammenbruch
dieser großen Aktion einen schweren Schlag für die Arbeiterbewegung aller Länder dar. Sie wollte sich nicht mit der Zuversicht
begnügen, die objektive Entwicklung arbeite letztlich trotz aller Niederlagen der sozialdemokratischen Bewegung in die Hände.
Ihr ging es um die subjektiven Momente, um »das bewußte Verhalten der kämpfenden Arbeiterschaft und ihrer Führer, das den
klaren Zweck hat, uns den Sieg auf der
kürzesten Linie
zu sichern« 83 .
Die Auseinandersetzungen um den belgischen Streik drehten sich vorwiegend um Sinn und Profil außerparlamentarischer Aktionen
sowie um deren Verhältnis zum parlamentarischen Kampf und kulminierten schließlich in einer Diskussion über die Rolle der
Gewalt.
Der Parteitag der Belgischen Arbeiterpartei am 30. und 31. März 1902 in Brüssel ließ sie in dieser Hinsicht das erste Mal
aufhorchen. Die Delegierten hatten die Einführung des allgemeinen und gleichen Stimmrechtes nach dem Grundsatz »ein Mann –
eine Stimme« gefordert und die Verankerung des Proportionalwahlrechts in der Verfassung verlangt. Damit ein Kompromiß mit
den Liberalen gegen die klerikale Vorherrschaft zustande kam, verzichtete die belgische Sozialdemokratie auf ihre Forderung
nach dem Frauenwahlrecht ebenso wie auf revolutionäre Mittel im Wahlrechtskampf. Dabei war |176| bereits vorherzusehen, daß die Klerikalen das Frauenstimmrecht fordern würden, um einen Keil in die »Allianz« zwischen Liberalen
und Sozialdemokraten zu treiben und die Arbeiter davon abzubringen, sich ihrer Machtmittel, der Straße und des Streiks, zu
bedienen.
Rosa Luxemburg empörte sich über das opportunistische Verhalten der Belgischen Arbeiterpartei, die doch immerhin schon seit
fünfzehn Jahren um ein demokratisches Wahlrecht kämpfte und es jetzt nicht wagte, das Frauenwahlrecht einzufordern. Anfang
April legte sie ihre Auffassungen schriftlich dar. 84 Gewiß könne die wenig entwickelte politische Reife der Frauen den Klerikalen eventuell zu neuen Stimmen verhelfen, aber Reife
erringe man nur in Ausübung der Rechte. Davon abgesehen bekämen die Sozialdemokraten durch Frauenagitation ein enormes neues
Betätigungsfeld. »Auch in ihr politisches und geistiges Leben müßte mit der politischen Emanzipation der Frauen ein starker
frischer Wind hineinwehen, der die Stickluft des jetzigen philisterhaften Familienlebens vertreiben würde, das so unverkennbar
auch auf unsere Parteimitglieder, Arbeiter wie Führer, abfärbt.« 85
Sie warnte vor der Illusion, es bringe »praktische Vorteile«, wenn man programmatische Grundsätze aufgebe. »Purzelbäume der
Taktik«, wie sie ihren nächsten Artikel dazu in der »Leipziger Volkszeitung« überschrieb, seien die Folge. 86
Jedoch dürfe man ebensowenig in Prinzipienreiterei verfallen und naheliegende pragmatische Entscheidungen nicht einem abstrakten
Programmschema opfern. Kenntnisreich ließ sie die Geschichte Belgiens im letzten Jahrhundert Revue passieren, als sie sich
am 14. April, dem Tag des Streikbeginns, unter der Überschrift »Der dritte Akt« erneut zu Wort meldete. 87 Das allgemeine Wahlrecht war der Schlachtruf der 1885 gegründeten Belgischen Arbeiterpartei gewesen, nachdem sie erkannt
hatte, »daß, solange das Parlament nur zur Balance zwischen der Kutte und dem Bürgerrock, zwischen der Grundrente und dem
Kapitalprofit dienen würde, jede Hoffnung auf
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