Rosa Rosen
fand es ganz unten. Es war vergilbt, doch die eingestickten Initialen waren noch immer zu erkennen: R. H. - Rachel Heller.
Abigail durchsah die Briefe, einen nach dem anderen. Doch sie wusste, sie konnte sie nicht alle lesen, es waren bestimmt 50. Sie war jetzt schon viel zu aufgewühlt, viel mehr als gut für sie war. Vor drei Monaten hatte sie einen leichten Herzinfarkt gehabt und der Doktor sagte ihr stets, sie solle sich schonen und jegliche Aufregung vermeiden.
Sie überging also ein paar der nächsten Briefe und fischte sich einen aus dem Jahr 1936 heraus.
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4. April 1936
Shalom Abby,
ich habe Dir so viel zu berichten. Und ich bin mir sicher, Du wirst die Hälfte davon nicht glauben.
In der Schule sind wir jetzt aufgeteilt, in „Deutsche Klassen“ und „Judenklassen“. Sie haben uns einfach getrennt. Und wir bekommen die uralten Bücher, während die anderen die guten bekommen. Wir haben sogar einen abgetrennten Bereich auf dem Schulhof. Kannst Du Dir das vorstellen?
Ich habe noch eine sehr schlechte Nachricht: Papa hat seine Zulassung als Apotheker verloren und musste die Schlüssel für die Apotheke abgeben. Nun weiß ich langsam wirklich nicht mehr weiter.
Es gibt so gut wie keine jüdischen Geschäfte oder Unternehmen mehr. Und die wenigen, die es noch gibt, werden boykottiert. Ich denke, sie wollen uns auf diese Weise davonjagen, und bei vielen – wie bei Euch – ist es ihnen ja auch schon gelungen.
Ich hoffe sehr, bald gelingt es ihnen auch, Vater zu verjagen, denn dann könnten wir endlich wieder zusammen sein.
Ach, fast hätte ich es vergessen: Ich danke Dir für das Geburtstagsgeschenk. Ich habe mich sehr über die Haarschleifen gefreut. Jetzt bin ich schon 14. Nächsten Monat wirst Du es auch sein. Ich werde Dir etwas Schönes schicken.
Bitte schreibe mir bald, ich kann es kaum erwarten zu hören, wie es Euch ergeht. Wie sind Deine Schulnoten?
Liebe Grüße
Rachel
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Es war Sommer 1937. Inzwischen waren Abigail und ihre Familie bereits zwei Jahre in New York. Sie beherrschten die Sprache fast fließend und hatten sich an ihre neue Heimat gewöhnt.
Es gab mehrere jüdische Zeitungen, in denen man von dem Elend lesen konnte, das den Juden in Europa angetan wurde. Und Ruben regte sich schrecklich darüber auf.
„Wir sind in Deutschland geboren, und jetzt behandeln sie uns wie Verbrecher. Wir können nur froh sein, dass wir da weg sind.“
„Werden wir denn jemals wieder zurückgehen nach Hause?“, fragte die 15-jährige Abigail.
„Hier ist jetzt unser Zuhause“, war alles, was ihr Vater sagte.
Abigail verstand es nicht. Wie konnten sich alle an dieser Ungerechtigkeit beteiligen? Nur weil ein paar Menschen daherkamen und etwas gegen die Juden hatten, machten alle anderen auf einmal mit? Das machte doch keinen Sinn!
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Abigail dachte an ihr Unverständnis, damals wie auch heute noch. Niemals hätte man es für möglich gehalten, dass ein hasserfüllter Führer einen Krieg beginnen könnte, der die halbe Welt betraf. Wie war es nur so weit gekommen?
Sie nahm einen weiteren Brief heraus, diesmal aus dem Jahre 1938. Rachel hatte ihr weiter ihre Treue gehalten und fleißig geschrieben.
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8. November 1938
Abigail,
ich weiß nicht, ob Ihr da drüben von den Ereignissen hier in Deutschland viel mitbekommt. Aber ich muss Dir sagen, es ist schrecklich!
Am 09. dieses Monats habe ich mich gefühlt wie in der Hölle. Sie wollen uns wirklich niedermachen, haben tausende jüdischer Geschäfte und Wohnungen zerstört, ja sogar Synagogen. Ich habe gehört, sie haben auf offener Straße Menschen erschossen, zum Glück habe ich es nicht gesehen. Ich hatte mich zusammen mit Mutter und Vater im Keller versteckt. Du müsstest diese Zerstörung sehen, es ist unfassbar.
Sie haben Zehntausende männlicher Juden in ganz Deutschland einfach verhaftet und mitgenommen. Ich habe solche Angst. Was ist, wenn sie als Nächstes Vater mitnehmen? Ich wüsste nicht, was ich tun sollte.
Ich hoffe so sehr, dass er es sich doch noch überlegt und wir einfach weggehen können, so wir Ihr. Ihr habt es gut, dort, wo Ihr jetzt seid. Oh, Abby, kannst Du nicht Deinen Vater bitten, meinen irgendwie zum Auswandern zu überreden?
Sie wollen es doch, sie versuchen mit all den Attacken, uns aus „ihrem“ Land rauszubekommen.
Sie sagen, wir Juden hätten ihnen den Krieg erklärt und sie müssen uns bekämpfen, weil wir Feinde seien. Ich habe doch aber niemandem den Krieg erklärt, habe niemals
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