Rosa Rosen
anscheinend völlig zerstört worden. Sie machten sich auf zu Rachels altem Haus, das einsam und verlassen da stand.
Sie fragten in Ämtern, gingen zu jüdischen Organisationen und versuchten alles, um herauszufinden, was aus Rachel und Levi geworden war. Sie gingen unendlich lange Listen durch, die die Todesopfer auflisteten. Da Abigail nicht einmal wusste, wann und wohin Rachel gegangen war, war die Suche nicht leicht. Man schloss allerdings Lager aus, die zu weit entfernt oder zu klein waren. Nach 1940, wurde ihr gesagt, dienten die kleinen nur als Durchgangslager, wo aussortiert wurde, Männer, Frauen und Kinder getrennt wurden und dann weiterdeportiert wurde. Am Wahrscheinlichsten waren Neuengamme oder Bergen-Belsen. Natürlich konnten auch andere KZ in Betracht kommen.
So durchsuchten die Geschwister also tagelang die Listen der Toten, bis ihre Augen wehtaten. Auf der Liste vom KZ Hamburg-Neuengamme entdeckten sie viele bekannte Namen, was sie jedes Mal wieder zum Weinen brachte.
Diese Listen durchzugehen war das Schwerste, was Abigail jemals tun musste. Diese Angst davor, Rachels oder Levis Namen zu entdecken, und gleichzeitig die Angst davor, sie nicht zu entdecken. Denn was bedeutete das? Hoffnung, dass sie überlebt hatten? Oder doch nur Aufschub bis zur nächsten Liste?
Am dritten Tag ließ Abigail die Liste fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Und Dan wusste, das seine Schwester ihre Antwort gefunden hatte.
Ja, auf einer Liste des KZ Bergen-Belsen hatte sie den Namen Rachel Heller sowie den Namen ihrer Mutter gefunden. Sie waren beide 1944 an Typhus gestorben.
Im ersten Moment dachte sie zu ersticken. Sie bekam keine Luft mehr und wollte auf der Stelle auch tot sein.
Doch bald machte sich ein anderes Gefühl in ihr breit: Erleichterung. Endlich konnten das Hoffen, das Bangen, die Ungewissheit und die Angst aufhören. Abigail hatte die Antwort bekommen, nach der sie so lange gesucht hatte. Sie konnte endlich weiterleben.
Und sie wusste, wo auch immer Rachel jetzt war, im Jenseits, im Scheol, im Himmel oder im Paradies, ihr ging es jetzt wieder gut. Das Leiden hatte ein Ende.
Über Levi fanden sie nichts heraus, keine Registrierung, kein Eintrag irgendwo.
Am zehnten Tag ihres Deutschland-Aufenthaltes trafen sie in der Innenstadt einen alten Bekannten, ein früherer Kommilitone von Levi, Joel Adler. Und er wusste Antworten.
Er berichtete, wie er zusammen mit Levi politisch aktiv gewesen war. Sie hatten im Untergrund Pläne ausgeheckt. Doch sie waren beide geschnappt und nach Dachau gebracht worden, ins Konzentrationslager, wo damals viele politische Gegner des Regimes verweilen mussten. Dort waren sie nicht einmal so schlecht behandelt worden. Doch mit den Jahren waren immer mehr Gefangene gekommen und weil das KZ so überfüllt gewesen war, hatten sie sie nach Auschwitz gebracht. Dort war es schlimmer gewesen. Dort hatten sie mit ansehen müssen, wie jeden Tag Hunderte Menschen ermordet wurden.
Joel und Levi hatten versucht, auch weiterhin Widerstand zu leisten, hatten heimliche Treffen organisiert. Doch es hatte alles keinen Sinn gehabt. Sie hatten Levi erschossen, als er nur ein falsches Wort äußerte und auch Joel war nur wie durch ein Wunder am Leben geblieben.
Er sagte, er wolle diese Erinnerungen einfach nur vergessen. Doch der Anblick der vielen Leichen bereitete noch vielen Überlebenden Alpträume, so schlimm, dass sich einige sogar umbrachten.
Nun wussten sie Bescheid. Und es gab nichts mehr, das sie in Deutschland hielt. Dan und Abigail waren sich einig, dass sie nun für immer gehen würden. Dieses Land war nicht mehr ihr Land. Vielleicht war es das nie gewesen. Doch sie hatten beide die Antworten erhalten, nach denen sie gesucht hatten. Antworten, die sie mit nach Hause bringen konnten. Und sie konnten endlich damit abschließen.
Sie machten sich wieder auf den Weg. Auf den Weg in ihre Heimat.
*
77 Jahre waren vergangen, seit Abigail Rachel zum letzten Mal gesehen hatte. 64 waren vergangen, seit sie Deutschland zum letzten Mal betreten hatte.
Alles, was danach gekommen war, erschien ihr jetzt irgendwie unwirklich. Diese 20, 25 ersten Jahre ihres Lebens waren die entscheidenden gewesen, die, die sie geprägt hatten. Sie waren ihr vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit. Die nächsten 65 nur wie Minuten.
Abigail hatte lange gebraucht, um über James hinwegzukommen. Erst mit 30 hatte sie geheiratet, einen netten jüdischen Mann, wie ihre Eltern es sich immer
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