Rosa Rosen
Krieg gegen irgendwen gewollt. Ich kann es nicht verstehen.
Ich wäre glücklich, gehen zu dürfen. Am liebsten würde ich einfach meinen Koffer packen und zu Dir kommen. Können wir nicht einen Plan aushecken, Abby? Würdest Du mich bei Dir aufnehmen?
Ach, es ist ja doch alles nur Wunschdenken. Alles, was mir bleibt, ist die Hoffnung, dass das alles bald vorbei ist.
Ich denke immer an Dich!
Deine Freundin Rachel
*
Abigail erinnerte sich noch gut an diesen Brief, vor allem, weil nur wenige Tage später eine schreckliche Botschaft kam. Sie erhielten ein Telegramm von Rubens Bruder Jakob, der ihnen mitteilte, dass Levi als politischer Gegner verhaftet worden war. Sie hatten ihn in ein Arbeitslager gebracht.
„ Arbeitslager“, so nannte man es damals. Erst viel später sollten sie alle erfahren, was für Orte es wirklich waren.
Ungerechtigkeit
Abigail machte eine Pause. Es war wirklich viel auf einmal. All die Erinnerungen waren wieder hochgekommen, die Erinnerungen an Rachel und ihre alte Heimat. An ihren Bruder Levi und das, was noch kommen sollte.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Sie sah hinaus auf die Straßen von New York. Sie hatte diese Stadt niemals verlassen können, diese Stadt, die sie mit offenen Armen empfangen hatte. Ohne sie, war sie sich sicher, wäre sie heute nicht mehr am Leben.
Sie sah lange hinaus, bis es klingelte. Es war der Lieferservice, der ihr täglich das Mittagessen brachte. Ja, das war jetzt eine gelungene Ablenkung.
Sie schlurfte zur Haustür und drückte den Summer. Dann nahm sie ihre Mahlzeit entgegen.
Heute gab es Pasta mit Scampi in Sahnesauce. Scampi waren zwar nicht koscher, doch sie hatte es mit den koscheren Regeln noch nie so ernst genommen wie ihre Mutter. Die hatte auch sehr mit ihr geschimpft, als sie sie dabei erwischt hatte, wie sie ihren ersten Cheeseburger gegessen hatte. Fleisch und Käse zusammen ging gar nicht!
Noch tagelang war ihre Mutter böse auf sie gewesen. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass Abigail sich nicht ihr ganzes Leben lang nur als Aussätzige behandelt fühlen wollte. Sie war nun in Amerika, verstand sich gut mit den jüdischen sowie den amerikanischen Teenagern und wollte nichts anderes als einfach nur normal sein. Sie selbst sein.
Ausgerastet ist ihre Mutter, als Abigail sie eines Tages angefangen hatte, „Mom“ zu nennen, so wie es in Amerika üblich war.
Doch Abigail tat, was sie wollte. Sie war nicht aus einem Land geflohen und hatte alles hinter sich gelassen, nur um sich jetzt wieder unterdrücken zu lassen. Sie glaubte fest daran, dass einiges von Levis Kampfgeist in ihr steckte.
Von Levi hatten sie schon eine ganze Weile nichts mehr gehört und sie wussten nicht, ob es ihm gut ging in dem Arbeitslager, in dem er feststeckte. Abigail betete jeden Abend für ihn und hoffte, er würde sich bald melden.
*
04. März 1939
Meine liebe Abby,
ich weiß nicht mehr weiter. Ich möchte mich ja gar nicht immer nur beklagen, und ich wünschte, ich könnte Dir auch mal Schönes mitteilen, doch es passiert ja nur noch Schlimmes.
Ab 1. Januar müssen wie alle Kennkarten bei uns tragen und alle Juden müssen einen zusätzlichen jüdischen Namen annehmen, damit wir gleich als solche erkannt werden. Die Männer heißen jetzt zusätzlich „Israel“ und die Frauen „Sara“. Ich weiß nicht einmal warum, kann mir aber nur vorstellen, dass mit Sara die Frau Abrahams gemeint ist.
Was ich nicht verstehe ist, dass doch die Christen, also die lieben „Deutschen“ auch, an dieselben Dinge glauben. Im Religionsunterricht haben wir doch gelernt, dass Abraham auch in der Bibel eine große Rolle spielt. Und selbst Jesus war doch Jude! Wie können sie uns so hassen? Ich verstehe das alles nicht, wirklich nicht!
Uns wird noch das letzte bisschen Würde geraubt. Es wird überall davon gesprochen, dass die Juden „vernichtet“ werden müssen. Ich weiß nicht, was das heißt. Wollen sie uns nur aus Deutschland raus haben oder Schlimmeres? Ich fürchte mich davor, diesen Gedanken weiterzudenken.
Nun wurden ALLE jüdischen Organisationen verboten. Den jüdischen Ärzten wurde die Zulassung entzogen. Aber deutsche Ärzte wollen uns nicht behandeln. Was, wenn einer von uns einmal richtig krank wird? Werden sie uns einfach sterben lassen?
Und noch etwas: Wir wurden dazu gezwungen, unseren Schmuck abzugeben. Mama ist nur am Weinen, weil sie die geliebten Erbstücke ihrer Mutter weggeben musste. Was wird nur mit ihnen passieren?
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