Rosa Rosen
Schmelzen sie sie ein? Tragen sie sie selber?
Liebste Abby, kannst Du diese Ungerechtigkeit begreifen, auch nur im Mindesten?
Ich sehne mich schon immer danach, von Dir zu hören. Du hast immer so viel Wunderbares zu berichten. Ich muss gestehen, ich beneide Dich zutiefst. Ich weiß, das ist nicht richtig, doch wieso darfst Du solch ein schönes Leben führen, während mir alles verwehrt bleibt?
Ich bete zu Gott, dass er uns wieder zueinander führt, damit wir gemeinsam glücklich sein können.
Habt Ihr inzwischen von Levi gehört? Es verschwinden immer mehr Männer, und sogar Frauen. Äußert man nur den geringsten Widerstand, scheinen sie einen zu verhaften und in eins der Arbeitslager zu stecken. Ich habe gehört, in Polen gibt es davon jede Menge. Ein Bekannter hat einen Brief erhalten von seinem Bruder, der in solch einem Lager ist. Der Brief wurde irgendwie herausgeschmuggelt und besagt, dass die Zustände dort schrecklich sind. Sie scheren allen die Köpfe kahl und wer nicht hört und tut, was sie verlangen, wird bestraft oder sogar erschossen. Es muss schrecklich sein dort. Man sagt, hier werden auch solche Lager gebaut. Wie viele Menschen wollen sie noch einsperren?
Hoffe mit mir, dass jemand all das ganz schnell stoppt. Vielleicht könnt Ihr dann ja sogar wieder nach Hause kommen.
In ewiger Freundschaft
Deine Rachel
*
Oh, dachte Abigail jetzt, wie sehr hatte sie sich das ebenfalls gewünscht. Sie hatte Monat für Monat gehofft, endlich gute Nachrichten zu erhalten. Einen Brief von Rachel, in dem sie ihr mitteilte, dass ihr Vater sich endlich dazu durchgerungen hatte, auch auszuwandern. Die Deutschen forderten die Juden jetzt ganz offiziell dazu auf, ins Ausland zu gehen.
Doch Abigail las weiterhin die jüdische Zeitung, und sie las Grausames: Hunderttausende, ja vielleicht sogar Millionen deutscher und polnischer Juden wurden abgeschoben, vertrieben und in osteuropäische Arbeitslager gesteckt. Sie hoffte inständig, dass Rachel und ihrer Familie dieses Schicksal nicht auch widerfahren würde.
Wie sehr sie sie vermisste, Rachel. Nicht nur, weil sie ihre beste Freundin war und sie selbst nach vier Jahren in Amerika noch nicht wieder solch eine vertraute Seele gefunden hatte, nein, noch viel mehr, weil sie solche Angst um sie hatte. Alles, was sie wollte, war, Rachel in Sicherheit zu wissen.
Doch das Gegenteil geschah: Der 2. Weltkrieg begann. Und die Angst stieg.
*
Abigail mochte gar nicht an die darauf folgenden Briefe denken. Sie überbrachten nichts Gutes mehr. Und Abigail musste in sich gehen und gut darüber nachdenken, ob sie weitermachen wollte. Denn jeder weitere Brief, den sie jetzt lesen würde, würde ihr das Herz erneut brechen, so wie schon damals. Und ihr Herz hatte sich bis heute nicht vollständig flicken lassen. Wie könnte man es auch heilen, wo ihm doch so viel Schmerz zugefügt wurde?
Abigail hatte oft gedacht, wie froh sie war, nicht mehr in Deutschland sein und das Elend miterleben zu müssen. Doch andererseits fühlte sie sich, als hätte sie Rachel im Stich gelassen und die musste nun alles ganz allein durchstehen. Ihr schlechtes Gewissen machte ihr schwer zu schaffen.
Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie Rachel geantwortet hatte und versprochen hatte, dass sie da rauskommen würde, dass die beiden eines Tages wieder zusammen sein würden. Dass bestimmt alles gut werden würde.
Sie verschwieg ihr, dass sie, selbst wenn der Krieg irgendwann ein Ende haben sollte, nicht vorhatte, zurück nach Deutschland zu gehen. Nie wieder wollte sie dorthin zurück. Was, wenn so etwas erneut geschah? Man konnte den Deutschen nicht mehr trauen, nie wieder.
Sie schüttelte erneut den Kopf. Tapfer nahm sie den nächsten Briefumschlag in die Hand und öffnete ihn.
*
15. September 1939
Liebe Abby,
ich hoffe, Ihr seid alle wohlauf. Mir geht es fantastisch. Ja, ich habe endlich einmal gute Neuigkeiten zu erzählen.
Du kannst Dich doch bestimmt noch an Nathan erinnern, oder? Der jüdische Junge, der zwei Häuser weiter wohnt? Du wirst es nicht glauben, aber er hat sich im letzten Jahr gut gemacht, ist ganz schön in die Höhe geschossen und sieht fabelhaft aus. Und das Beste kommt nun: Er hat mich gebeten, mit ihm auszugehen!
Natürlich musste ich meine Eltern um Erlaubnis fragen. Mama meinte, ich sei noch zu jung zum Ausgehen, doch Papa hat mich gelassen. Er erinnerte sie daran, dass ich bereits 17 bin. Und dass die beiden sich auch in dem Alter kennengelernt
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