Rosa Rosen
während Dir alles verwehrt bleibt.
Die Schule hat begonnen und der Unterricht fällt mir schwer. Wir müssen schleunigst Englisch lernen. Mutter und Vater haben es sich angewöhnt, zu Hause nur noch Englisch mit mir und Dan zu sprechen, damit wir es bald alle besser können.
Mutter musste eine Stelle als Wäscherin annehmen, New York ist sehr teuer. Doch wir fühlen uns hier alle wohl und werden gut behandelt.
Das Essen hier ist ein bisschen komisch. Die Amerikaner scheinen nichts anderes zu essen als „Hot Dogs“ (Brötchen mit Wurst) und „Hamburger“ (Brötchen mit Frikadelle). Ja, sie nennen sie tatsächlich so.
Mutter kocht weiterhin koscher. Und hier ist es leicht, koscher zu leben, viel leichter als in Deutschland. Es gibt koschere Bäckereien und Restaurants ohne Ende. Wenn Du mich eines Tages besuchen kommst, dann gehe ich mit Dir in eines und Du darfst alles essen, was Du willst.
Die Jungs sind hier genauso wie in Hamburg auch. Es gibt Witzbolde und wirklich nette, die einem die Schulbücher in die Klasse tragen. Sie haben mir einen neuen Spitznamen gegeben: Abby.
Hast Du von Levi gehört? Er hat erst ein einziges Mal geschrieben. Und Papa macht sich große Sorgen.
Ich wünschte, alles wäre wie früher und wir könnten zusammen in meinem Rosengarten sitzen.
Ich möchte Dich um etwas bitten: Kannst du mir bitte ein paar Rosen schicken? Ich weiß, sie werden auf der langen Reise eingehen. Aber nur ein paar Blütenblätter – und es ginge mir gleich besser.
Ich warte geduldig auf Deinen nächsten Brief.
In Liebe
Abigail
Hoffnung
Abigail hielt die Briefe fest in den Händen und ging einen nach dem anderen durch. Ihre neunzig Jahre alten zittrigen Hände hielten diese Blätter Papier wie den wertvollsten Schatz. Sie legte sie zur Seite und besah sich wieder die rosafarbenen Rosenblätter. Wenn sie sie an ihre Nase hielt, konnte sie fast noch den lieblichen Duft riechen.
Tränen traten in Abigails Augen und rollten langsam ihre Wangen herunter. Sie kniff sie zusammen und ihr entfuhr ein tiefer Seufzer.
Es war einfach zu viel für sie. Sie musste alles auf dem Tisch ablegen und sich ein Glas Wasser holen gehen.
Schritt für Schritt schlurfte sie in die Küche. Alle sagten ihr immer wieder, sie solle endlich in ein Altersheim ziehen. Doch das wollte sie nicht, auf keinen Fall! Sie hatte bereits alles verloren, was sie jemals besessen hatte. Man durfte ihr nicht auch noch die Wohnung nehmen, und ihre Würde. Sie waren alles, was Abigail noch hatte.
Als sie sich wieder gefangen hatte, nahm sie die Briefe erneut in die Hand und suchte den nächsten heraus. Sie sammelte all ihre Kräfte und las.
*
21. November 1935
Liebe Abby,
so werde ich Dich von nun an auch nennen, wenn es Dir recht ist. Mir gefällt der Name, er passt zu Dir.
Ich hoffe, es geht Dir gut. Uns geht es leider immer schlechter. Seit die Schule wieder angefangen hat, schimpft Herr Berger nur noch mit uns und benutzt des Öfteren seinen Stock. Neulich hatte ich eine ganz rote Hand, nur weil ich die Hausaufgaben nicht richtig gemacht hatte. Ich hasse die Schule von Tag zu Tag mehr.
Meine Tante hat ihre Stelle im Kaufhaus verloren und mein Cousin Noa darf sein Studium nicht beginnen, weil sie keine Juden mehr aufnehmen an der Universität. Alle sind verzweifelt und fragen sich, was wird. Wie sollen wir überleben, wenn wir kein Geld verdienen dürfen?
Ich bin so dankbar, dass es wenigstens einer von uns beiden besser geht. Bitte schreibe mir bald zurück und erzähle mir von all den schönen Dingen dort drüben in Amerika. Amerika. Wie schön das klingt.
Ich wünschte, ich könnte Vater davon überzeugen, zu Euch zu kommen. Doch er sagt, solange es noch ein wenig Hoffnung gibt, geben wir nicht auf. Er sagt, er sei Deutscher, warum sollte er aus seinem eigenen Vaterland fliehen? Er sagt, es könnte sich jetzt jeden Tag alles zum Guten wenden. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann.
Bitte schenke mir ein bisschen Mut, liebste Abby.
Ich denke Tag und Nacht an Dich.
Deine Freundin Rachel
PS: Es sind seit September neue Bewohner in Eurem Haus. Ich habe mich in ihren Garten geschlichen, um ein paar rosa Rosen für Dich zu stibitzen. Ich weiß doch, dass Du die am liebsten magst. Ich habe sie getrocknet und lege sie in den Umschlag. Ich umwickle sie mit einem Taschentuch und hoffe, sie werden heil bei Dir ankommen.
*
Das Taschentuch, dachte Abigail. Es musste doch noch irgendwo sein. Sie durchsuchte die Kiste und
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