Rosa Rosen
werde ich aber auf keinen Fall mitkommen! Ich werde mir das nicht länger gefallen lassen und tatenlos dabei zusehen, wie sie uns unserer Würde berauben!“
„Es gibt leider nicht viel, was wir tun können, Levi“, sagte sein Vater traurig.
„Das werden wir erst noch sehen“, rief er und verließ den Raum.
Ruben sah seinem Sohn nach, drehte sich dann um und ging auf das Fenster zu. Auf einmal wurde die Tischdecke gehoben und ihr Vater bückte sich.
„Abigail! Was tust du denn hier? Hast du etwa alles mit angehört?“, fragte er schockiert.
Sie nickte schüchtern. Hoffentlich bekam sie keinen Ärger.
„ Komm her, mein kleines Mädchen.“ Er klopfte mit der Hand auf seinen Schoß. Die zwölfjährige Abigail, fast schon zu groß, um auf dem Schoß ihres Vaters zu sitzen, tat dennoch, wie er ihr sagte.
„ Papa, werden wir wirklich fortgehen?“
„Ich weiß es nicht, Abigail. Das ist schon möglich.“
„Aber wo werden wir denn hingehen?“
„Mach dir nicht so viele Gedanken. Noch ist die Zeit nicht gekommen.“
Abigail sah ihrem Vater ins Gesicht und entdeckte sehr traurige Augen. Und sie sah noch etwas in ihnen, nämlich Angst.
Sie umarmte ihn ganz fest und hoffte, sie könnte bald wieder einfach nur Abigail sein, und nicht Abigail, das jüdische Mädchen. Sie fühlte sich deutsch, war in Deutschland geboren. Sie hatte bis vor Kurzem nicht einmal gewusst, dass sie anders war. Doch anscheinend war sie es. Sie musste es sein. Und sie oder ihre Vorfahren mussten Schlimmes angestellt haben, dass man sie jetzt so hasste und aus ihrem eigenen Land vertreiben wollte.
*
„Rachel, ich habe Angst“, gestand Abigail am nächsten Tag ihrer besten Freundin.
„Hab keine Angst. Sie werden schon einsehen, dass sie uns falsch behandeln und alles wird gut werden.“
„Aber was, wenn meine Familie fortgeht?“
„Ich hoffe, das wird nicht passieren. Du bist meine liebste Freundin, Abigail. Was würde ich nur ohne dich machen?“
Die beiden Mädchen umarmten sich und beteten, dass man sie nicht auseinanderreißen würde.
*
Das Jahr 1935 wurde nicht besser, ganz im Gegenteil. An einem Tag kam Abigail ganz verwirrt nach Hause.
„Was ist passiert, meine Kleine?“, fragte ihr Vater sie.
„Sie haben uns nicht reingelassen.“
Sie stand da mit ihrem Schwimmbeutel in der Hand. Sie hatte mit Abigail ins Schwimmbad gehen wollen, doch man hatte sie wieder weggeschickt. Und vor dem Schwimmbad war ein großes Schild aufgestellt worden: JUDEN UNERWÜNSCHT!
Ruben schüttelte den Kopf, wie so oft in diesen Tagen.
„So weit ist es nun schon gekommen. Gestern Abend wollte dein Bruder Dan ins Kino gehen. Sie haben auch ihn fortgeschickt.“
„Warum tun sie das, Papa?“
„Weil wir Juden sind und weil sie uns für Dinge verantwortlich machen, die wir nie getan haben. Sie erzählen Lügen. Sie wollen uns hier nicht mehr haben, Abigail. Und wir werden Deutschland bald verlassen. Hier haben wir keine Zukunft.“
Abigail sah ihren Vater erschrocken an. „Aber, Papa, du wirst bestimmt wieder Arbeit finden. Und sie werden uns auch ganz bestimmt wieder ins Schwimmbad lassen.“
„Abigail, so leid es mir tut, dir das sagen zu müssen, aber es ist einfach so: Es wird nur immer schlimmer werden. Sie stellen keine Juden mehr ein. Jüdische Geschäfte werden boykottiert. Sie nehmen nur noch eine begrenzte Anzahl jüdischer Schüler an den Schulen auf. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was noch alles kommen wird. Ich möchte euch das nicht zumuten. Wir werden noch einmal neu anfangen, irgendwo, wo man uns wie Menschen behandelt.“
„Aber wo denn?“ Sie hoffte, dass es nicht allzu weit weg sein würde, so dass sie Rachel weiterhin besuchen könnte.
„In Amerika.“
Amerika? Abigail wusste, dass Amerika sehr weit weg war. Und dass das bedeutete, Rachel für immer verlassen zu müssen.
*
Nur einen Monat später, am 21. Juni, verließen sie Deutschland mit der „Europa“. Sie hatten mit dem Zug nach Bremen fahren müssen, um von dort aus mit dem Schiff in Richtung New York aufzubrechen.
In der nun dreizehnjährigen Abigail machten sich viele Gefühle breit: Trauer und Verlust, Angst vor dem Neuen und auch Aufregung und Abenteuerlust. Sie vermisste Rachel jetzt schon. Doch sie hatte ihr versprochen, sobald sie in ihrem neuen Zuhause angekommen waren, zu schreiben. Und Rachel hatte ihr versprochen zurückzuschreiben.
Der Abschied war tränenreich gewesen. Sie hatten im Rosengarten hinter Abigails
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